Totenflut
könnte Ihnen nichts anhaben. Sie sind einfach noch zu jung, um bestimmte Dinge zu verstehen.«
»Und was ist mit Ihnen, haben Sie Frau und Kinder? Freunde stehen bei Ihnen bestimmt auch nicht gerade Schlange!«, wehrte sich Elin schroff.
»Nein. Aber raten Sie mal, was ich vermisse!« Schröder stach mit der Gabel wieder ins Tischtuch. Elin senkte den Blick und sah ihr eigenes Gesicht sich merkwürdig verformt in ihrem Teller widerspiegeln.
»Warum sind wir eigentlich essen gegangen?«, fragte Schröder lustlos.
»Weil wir irgendwann was essen müssen«, antwortete Elin.
Sie sah ihn an und überlegte, ob sie ihm von der Anzeige in der Zeitschrift und ihrem Anruf erzählen sollte. Der Fotograf arbeitete hier in Osnabrück. So einen Zufall konnte es doch nicht geben. Zumindest gestern hatte sie so gedacht. Sie war sich ganz sicher gewesen. Heute erschien alles in einem anderen Licht. Vielleicht lag es an dem, was sie heute Morgen erlebt hatten, vielleicht an dem, was Schröder gesagt hatte, aber die Ãberprüfung des Fotografen war nur noch zu einer Nebensächlichkeit geschrumpft. Sie würde hinfahren und ihn sich mal ansehen. Sie allein. Schröder musste das nicht wissen, erst recht nicht, wenn sie sich geirrt haben sollte.
Schröders Bedenken das Alter seiner Partnerin betreffend, hatten nie impliziert, dass sie nicht intelligent genug, nicht wissend genug in ihrem Alter sein konnte. Seine Bedenken zielten auf eine andere Tatsache ab. Wenn man jung war, hatte man noch nicht so viele Rückschläge, Niederlagen und Enttäuschungen gesehen und erlebt wie ältere Menschen. Wenn man jung war, wusste man noch nicht, wie hart und ungerecht und böse diese Welt sein konnte. Das war der Grund, warum man als junger Mensch so mutig und frei war. Man wusste es noch nicht besser.
Elin war noch zu jung. Und sie wollte Schröder genau das Gegenteil beweisen. Deshalb fuhr sie allein zu dem Fotografen. Schon bald sollte sie schmerzhaft erfahren, was für ein groÃer Fehler das gewesen war.
Kapitel 37
Schröder präsentierte das Foto aus dem Brief von Frau Brender einer kleinen Gruppe von Polizisten. Elin hatte ihn gebeten, dieses Treffen allein abzuhalten. Sie würde später hinzukommen, hatte sie gesagt. Dieses Verhalten war ungewöhnlich, doch Schröder hatte nicht weiter nachgehakt.
Schröder hielt das Foto vor seine Brust, während er mit den Männern sprach.
»Die Spuren, die wir an den Opfern gefunden haben, Hämatome, Verletzungen und so weiter, passen alle zu diesem Szenario. Unser Täter stellt diese Szene nach. Die Frauen werden in einen ebensolchen Kerker gesperrt. Ich will, dass wir diesen Ort finden! Wir suchen nach einem stillgelegten Fabrikgelände. Osnabrück ist klein, so viele Orte kann es nicht geben, die diesem hier ähneln. Wo stehen alte Fabrikschornsteine? Finden Sie diesen Ort, dann finden wir vielleicht auch ihn! An die Arbeit!«
Elin fuhr mit dem Taxi zu der Adresse, die der Fotograf ihr genannt hatte. Es war ein mehrstöckiges Haus im Gewerbegebiet Hasepark. Dieses Gebiet war in den Neunzigern entstanden und sollte so etwas wie ein moderner, lebendiger Industrie- und Gewerbepark werden. Man hatte versucht, alles in ein hübsch begrüntes Areal nahe der Hase einzubetten. Der Plan ging schief, und jetzt war der Park seit Jahren eine tote Baustelle mit leerstehenden Häusern, verwaisten Flächen, auf denen nichts wuchs als Unkraut, und einigen wenigen Geschäften und Bürokomplexen.
»Sechs Euro fünfzig sind es dann!«, sagte der Taxifahrer.
»Können Sie vielleicht hier auf mich warten? Es wird nicht lange dauern.«, sagte Elin.
»Aber die Fahrt müssen Sie schon erst bezahlen!«, sagte der Mann.
»Natürlich!« Elin gab ihm das Geld, und er stellte das Taxameter wieder an, während Elin ausstieg. Sie ging einen gepflasterten Weg entlang, der inmitten von brachliegender, schlammiger Erde verlief, in der sich tiefe Pfützen gebildet hatten. Die ersten beiden Etagen des Gebäudes standen leer, soviel konnte Elin bereits jetzt erkennen. Auf den Klingelschildern war nur in der obersten Reihe ein Name eingetragen: Kramer. Elin drückte den Knopf, der Summer ertönte. Sie sah das letzte Mal zum Taxifahrer und ging dann hinein. Der Fahrstuhl war auÃer Betrieb. Ein Aufkleber war quer über der Schiebetür angebracht, und aus der fehlenden Abdeckung
Weitere Kostenlose Bücher