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Totenflut

Titel: Totenflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bent Ohle
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der Knopfleiste hingen bunte Kabel heraus. Elin musste die Treppe nehmen. Sie ging vier Stockwerke hoch durch ein Geisterhaus mit leeren Büroräumen und unfertigen Lichtinstallationen. Überall quollen Kabel aus den Wänden. Gut, dass sie tagsüber hierher gekommen war. In der Dunkelheit brauchte man sicher eine Taschenlampe hier im Treppenhaus, dachte sie. Oben angekommen, las sie das Schild Fotostudio Kramer auf der Tür. Sie öffnete ihre Handtasche und prüfte, ob sie ihre Waffe dabei hatte. Dann holte sie tief Luft und klopfte an.
    Weise war durcheinander. Dieser Schock saß noch tief in seinen Gliedern. Er war nicht so klar im Kopf wie sonst, sondern irgendwie fahrig und unkonzentriert. Und da war dieses Gefühl, dass etwas fehlte, dass man ihm etwas genommen hatte. Seine Mutter war tot. Ein Zustand, den er sich seit seiner Kindheit gewünscht, ja, herbeigesehnt hatte. Früher noch mehr als heute. Heute war es nicht ihr Tod, sondern ihr Leiden, dass er sehen wollte. Doch ihr Leid war nun vorbei. Sie hatte es selbst beendet. Axel fühlte sich von ihr um seine Rache betrogen, und er fühlte gleichzeitig einen großen Verlustschmerz. Trotz all des Hasses, den er für seine Mutter empfand, war es, als hätte man seine Wurzeln gekappt. Er war wie ein Baum, der ohne Halt in der Erde stand und zu kippen drohte.
    Ihren Körper aufzuschneiden, diesen Körper, den er so sehr verachtete, der ihn so sehr abstieß, hatte ihn unglaubliche Überwindung gekostet. Eine Untersuchung hatte er nicht durchgeführt. Ihre Leiche musste nur die typischen Narben einer Obduktion aufweisen, um keinen Verdacht zu erwecken. Das reichte.
    Er hatte immer gedacht, dass es das Höchste wäre, der Höhepunkt seines Schaffens, wenn es zu dem Moment kam, da er seiner Mutter erklären konnte, was er getan hatte und dass er es nur für sie getan hatte. Am Ende aller Morde, am Ende des Tötens sollte sie stehen. Sie hätte sein letztes Opfer werden sollen. Dann wäre sein Hunger gestillt. Aber eine Erkenntnis hatte ihm dieser Tag gebracht, an dem seine Mutter auf seinen Seziertisch gelegt worden war: Es würde nie aufhören! Im Gegenteil. Jetzt, da sie tot war, wütete es noch mehr in ihm. Ein wilder, unbändiger Sturm war losgebrochen, der alles zerstören wollte.
    Er musste die Kontrolle behalten. Er durfte sich nicht gehen lassen. Das erste Mädchen heute Morgen, das auf seine Anzeige gekommen war, hatte ihn nur noch rasender gemacht. Sie war sechzehn gewesen und mit ihrer Mutter aus Münster gekommen. Sie war zu jung gewesen, genauso wie damals dieses Mädchen, das Winkler aufgelesen hatte. Sie passte nicht, und obendrein war eine Begleitperson zu gefährlich. Doch er brauchte heute ein Mädchen. Er brauchte es dringend. Er zitterte ein wenig, als er das Klopfen hörte. Das war sein zweiter Termin für heute. Sie musste die Richtige sein, sie musste es einfach sein! Er ging zur Tür und öffnete. Alles war vorbereitet für sie. Die Videokamera lief bereits. Es konnte beginnen.
    Als Elin Weise erkannte, gefror ihr freundliches Lächeln zu Eis. Auch Weise hatte ein Begrüßungslächeln aufgesetzt, das jäh zerbrach, wie eine Maske aus Ton. Elins Verstand suchte zunächst nach anderen Erklärungen für den Umstand, Weise hier anzutreffen, die jedoch alle nicht so plausibel waren, wie diese eine: Weise war der Mörder. Und trotz seines veränderten Äußeren, erkannte Elin in Weises Gesicht die Augen des jungen Axel wieder. Sie hatte sich dieses Foto und vor allem seine Augen eingeprägt. Augen veränderten sich nicht. Sie stachen aus dem fremden Gesicht hervor, und was nun in ihnen stand, konnte seine Identität nicht länger leugnen. Weise machte eine Metamorphose durch. Er wurde vor ihren Augen zu Axel Brender. Weise, der Gerichtsmediziner, war nur eine Hülle gewesen, ein Kostüm, das er nun abstreifte, um sein wahres Ich zu präsentieren.
    Dieser Erkennungsmoment war ein Moment der vollkommenen Ruhe zwischen ihnen. Ein Vakuum, das platzte, als Elin herumwirbelte und das Treppenhaus hinunterflüchtete. Jeder Muskel ihres Körpers war zum Bersten gespannt, die Panik riss an ihrer Haut, riss an ihrem Verstand. Sie lief und lief und gab einen tiefen durchdringenden Schrei von sich, der aber nicht laut genug war, um Axels Schritte oder sein wütendes Schnauben zu übertönen. Wie ein Monster flog er die Treppen

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