Totengeld
Um die Herzen und die Köpfe zu gewinnen, wie es beim Militär heißt.
Ich ließ den Blick von Gesicht zu Gesicht wandern. Die Mädchen sahen aufgeregt, aber schüchtern aus, wie Teenager in der Gegenwart von Fremden eben sind. Das würde zu der Soldatentheorie passen.
Ich drehte die Hülle um und las, was auf der Rückseite des Abzugs stand. Eine Liste von Namen, alle in Großbuchstaben.
LAILA. KHANDAN. MAHTAB. ARA. TAAHIRA. HADIYA.
Sechs Mädchen. Sechs Namen.
Eindeutig nicht Katys Handschrift. Ihr Gekritzel sieht aus wie die Spuren einer Schnecke auf Sauftour.
Was mich neugierig machte, war die Tatsache, dass die Namen in lateinischer Schrift geschrieben waren. Paschtu wie Dari benutzen Variationen des persischen Alphabets.
Vielleicht hatte ein Soldat oder ein Marine das Foto geschossen und die Namen aufgeschrieben, wie die Mädchen sie ihm nannten. Das würde zu der Herz-und-Kopf-Theorie passen.
Ich stellte mir die Szene vor. Und überlegte. Hatten die Erwachsenen in stummer Missbilligung dabeigestanden? Hatten sie sich über das Lächeln ihrer Kinder gefreut? Hatten die Mädchen sich schnell fotografieren lassen, als die Eltern gerade einmal nicht hinschauten?
Ich drehte das Foto hin und her. Gesichter. Namen. Entsprach die Namensreihenfolge der Anordnung der Mädchen auf dem Foto? Hatte diese Anordnung irgendeine Bedeutung?
Welches Mädchen hatte das Foto erhalten? Hatte man ihr erlaubt, es zu behalten? Oder war es ihr abgenommen worden?
Eine andere Möglichkeit: Hatte der Soldat das Foto behalten, vielleicht um es seiner Familie zu Hause zu mailen? Um ihnen ein Gefühl für den Ort zu vermitteln? Um einer Mutter oder einer Ehefrau zu zeigen, dass die Einheimischen auch nur gewöhnliche Menschen waren?
Vielleicht wurden Fotos aber auch zur Dokumentation aufgenommen. Noch ein Herz-und-Kopf-Manöver. Beim nächsten Besuch in dem Dorf frag namentlich nach den Mädchen. Eltern lieben das.
Aber das war alles nur Spekulation. Und keine Theorie erklärte, wie das Foto in meinen Rucksack gelangt war. Aber immerhin konnte ich eine Verdächtige ausschließen oder bestätigen.
Ich ging ins Arbeitszimmer hinunter, zog den Schnappschuss aus der Hülle, fotografierte ihn mit meinem iPhone und hängte die Datei an eine E-Mail. Dann schrieb ich Katy folgende Nachricht: Habe das in meinem Rucksack gefunden. Warst Du das? Wenn Du diese Mädchen kennst, würde ich gern die ganze Geschichte erfahren. Übrigens, das Ding sieht aus wie ein Polaroid. Sind Sofortbildkameras da drüben gebräuchlich? (Mit anderen Worten, es würde mich interessieren, warum Du mir die Aufnahme nicht per E-Mail geschickt hast.) Als ich den Abzug wieder in die Hülle steckte, traf mich eine Erkenntnis. Wer auch immer das Foto geschossen hatte und wo und aus welchen Gründen, ihm oder ihr war es so wichtig gewesen, dass er es in eine Plastikhülle gesteckt hatte. Um es zu erhalten.
Aber warum dann mir geben?
Noch immer verwirrt, legte ich das Foto auf den Schreibtisch, verstaute den leeren Rucksack und verließ das Haus.
Kurz nach Mittag traf ich im MCME ein. Der Empfangsbereich war verlassen, und nirgendwo war ein Pathologe, Todesermittler oder Techniker zu sehen.
Mrs. Flowers war nicht an ihrem Platz. Ich nahm an, dass sie eben ihr übliches Sandwich mit Thunfisch oder Hühnchen aß oder sich um ihre Parzelle des Personalgartens kümmerte. Ihre Spezialitäten waren Salat und Basilikum.
Ich ging direkt in mein Büro. Das Lämpchen an meinem Telefon blinkte, Akten und Papiere türmten sich auf meinem Schreibtisch.
Nachdem ich meine Handtasche verstaut hatte, ging ich den Stapel an. Obenauf lag eine Anfrage für ein anthropologisches Gutachten. Mrs. Flowers’ Klohäuschen war eine Dixi-Kabine, und der Kopf war ein Schädelfragment. Kacke muss nicht erklärt werden.
Auch wenn die Vorstellung etwas unappetitlich war, hoffte ich doch, dass Joe die Reinigung des Fragments mir überlassen hatte. Man weiß nie, was sich in anhaftendem Material alles findet. Gold in der Scheiße?
Ich legte eine Fallakte an und steckte die Anfrage hinein. Dann nahm ich mir die Spermaberichte vor. Jeder nannte die Fallnummer, unter der die Probe archiviert worden war, den Namen, das Alter, die letzte bekannte Adresse und das Vorstrafenregister der Person, deren genetisches Profil die Probe entsprach.
Der erste DNS-Treffer war ein Mann namens Cecil Converse »CC« Creach. In Creachs Polizeiakte fanden sich im Erwachsenenalter mehrere Verhaftungen wegen des
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