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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Papierrascheln. »Mein Kontakt hat ein bisschen rumtelefoniert, und der Typ hat in den letzten Monaten auf der Arbeit keinen Tag gefehlt. Er kann also unmöglich über den Teich gehüpft sein, um die Ex umzulegen. Chad Andrew Mitchell. Wieso?«
    Kein N. »Nur so.«
    Frank wartete, aber ich bin gut in dem Spiel. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich halt dich auf dem Laufenden. Die Identifizierung bringt uns vielleicht nicht weiter, aber trotzdem, es ist gut, etwas mehr über sie zu wissen. Macht es dir bestimmt leichter, dich mit ihr abzufinden, oder?«
    »Oh ja«, sagte ich. »Und ob.«
    Es stimmte nicht. Nachdem Frank aufgelegt hatte, stand ich noch lange da, gegen den Baum gelehnt, schaute zu, wie die verwitterten Umrisse des Cottages verschwanden und wieder auftauchten, während die Wolken sich am Mond vorbeischoben, und dachte über May-Ruth Thibodeaux nach. Jetzt, da sie ihren Namen zurückbekommen hatte, ihre Heimatstadt, ihre Geschichte, wurde es mir irgendwie erst richtig klar: Sie war real gewesen, nicht bloß ein Schatten, den Franks und meine Vorstellungskraft geworfen hatte. Sie hatte gelebt. Dreißig Jahre lang hätten wir einander begegnen können.
    Plötzlich schien mir, dass ich es hätte wissen müssen. Ein Ozean zwischen uns, aber mir war, als hätte ich sie die ganze Zeit dort drüben spüren müssen, als hätte ich ab und an von meinen Murmeln oder meinem Schulbuch oder meinem Fallbericht aufschauen müssen, weil ich meinte, jemand hätte meinen Namen gerufen. Sie war die Tausende von Meilen hergekommen, nah genug, um sich meinen alten Namen überzustreifen wie einen Pullover, aus dem die große Schwester rausgewachsen ist. Sie hatte ihren Weg hierhergefunden wie eine Kompassnadel, und sie hatte es fast geschafft. Sie war nur eine Autostunde weit weg gewesen, und ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen, rechtzeitig, um den letzten Schritt zu tun und sie zu finden.
    Die einzigen Schatten in dieser Woche kamen von draußen. Am Freitagabend spielten wir Poker – sie spielten oft Karten, bis spät in die Nacht; überwiegend Texas Hold’em oder Draw, manchmal Piquet, wenn nur zwei Leute Lust hatten. Die Einsätze bestanden lediglich aus angelaufenen Zehn-Cent-Münzen aus einem großen Glas, das jemand auf dem Dachboden gefunden hatte, aber sie nahmen es trotzdem ernst: Jeder fing mit derselben Anzahl Münzen an, und wer pleite war, war draußen und durfte sich nichts von der Bank borgen. Lexie war wie ich eine ganz anständige Kartenspielerin gewesen. Ihre Ansagen hatten nicht immer Hand und Fuß gehabt, aber sie hatte offenbar gelernt, sich das Unvorhersehbare zunutze zu machen, besonders wenn sie ein gutes Blatt auf der Hand hatte. Wer gewann, durfte entscheiden, was es am nächsten Tag zum Abendessen gab.
    An dem Abend hatten wir eine Schallplatte von Louis Armstrong aufgelegt, und Daniel hatte zur Freude aller eine Riesentüte Doritos gekauft, dazu drei verschiedene Dips. Wir ließen diverse angeschlagene Schälchen kreisen und versuchten, uns mit den Chips gegenseitig abzulenken – bei Justin funktionierte das am besten, weil er sich überhaupt nicht mehr konzentrieren konnte, wenn er fürchtete, der Mahagonitisch würde Salsa abbekommen. Gerade hatte ich Rafe, der als Einziger von den anderen noch im Spiel war, den Pot vor der Nase weggeschnappt – wenn er ein schwaches Blatt auf der Hand hatte, kleckerte er mit den Dips herum, bei guten Karten schaufelte er sich die Doritos haufenweise direkt in den Mund; pokern Sie nie mit einem Detective –, und ich freute mich hämisch, als sein Handy klingelte. Er kippelte seinen Stuhl nach hinten und nahm das Telefon von einem Bücherregal.
    »Hallo«, sagte er und zeigte mir den Mittelfinger. Dann senkte sein Stuhl sich wieder, und sein Gesicht veränderte sich. Es erstarrte zu der arroganten, undurchschaubaren Maske, die er an der Uni und im Umgang mit Außenstehenden trug. »Dad«, sagte er.
    Von jetzt auf gleich rückten die anderen näher um ihn herum. Es war in der Luft spürbar, als würde sie straffer, dichter, während sich alle um seine Schultern schlossen. Ich saß neben ihm und kam in den vollen Genuss des Gebrülls aus dem Hörer: » … Stelle frei geworden … Fuß in der Tür … dir anders überlegt … ?«
    Rafes Nasenflügel zuckten, als hätte er etwas Widerliches gerochen. »Kein Interesse«, sagte er.
    Er schloss die Augen, als die Schimpfkanonade lauter wurde. Ich schnappte einiges auf in dem Tenor,

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