Totengleich
Theaterstücke lesen sei was für Weichlinge, und jemand namens Bradbury habe gerade seine erste Million zusammen, und Rafe sei überhaupt der totale Versager. Er hielt das Handy zwischen Daumen und Zeigefinger, einige Zentimeter von seinem Ohr weg.
»Menschenskind, leg auf«, flüsterte Justin. Er hatte das Gesicht unbewusst zu einer gequälten Grimasse verzogen. »Leg einfach auf.«
»Er kann nicht«, sagte Daniel leise. »Er sollte, klar, aber … Irgendwann.«
Abby zuckte die Achseln. »Na denn … «, sagte sie. Sie ließ die Karten mit einem raschen, frechen Schwung bogenförmig von Hand zu Hand sausen und teilte für jeden fünf Karten aus. Daniel lächelte sie an und rückte seinen Stuhl an den Tisch, bereit.
Das Handy bellte noch immer. Das Wort »Arsch« fiel regelmäßig, in etlichen Kontexten. Rafe hatte das Kinn angezogen, als wappnete er sich gegen einen stürmischen Wind. Justin berührte ihn am Arm; Rafe riss die Augen weit auf und blickte uns an, wurde rot bis zum Haaransatz.
Wir Übrigen hatten bereits unseren Einsatz auf den Tisch geworfen. Ich hatte ein denkbar schlechtes Blatt – eine Sieben und eine Neun, nicht mal von einer Farbe –, aber ich wusste genau, was die anderen machten. Sie holten Rafe zurück, und bei dem Gedanken, zu ihnen zu gehören, durchfuhr mich etwas Berauschendes, etwas so Schönes, dass es weh tat. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich daran, wie Rob immer einen Fuß um meinen Knöchel gehakt hatte, unter unseren Schreibtischen, wenn O'Kelly mich mal wieder zur Schnecke machte. Ich hob meine Karten in Rafes Richtung und hauchte: »Dein Einsatz.«
Er blinzelte. Ich zog eine Augenbraue hoch, setzte mein bestes Lexie-Grinsen auf und flüsterte: »Es sei denn, du hast Schiss, ich spiel dich wieder in Grund und Boden.«
Der erstarrte Blick löste sich, ein klein wenig. Er sah sich seine Karten an. Dann legte er das Handy auf das Bücherregal neben sich, ganz vorsichtig, und warf zehn Pence in die Mitte. »Weil ich glücklich bin, so wie ich lebe«, sagte er zu dem Handy. Seine Stimme klang fast normal, aber sein Gesicht war noch immer zornesrot.
Abby lächelte ihm knapp zu, fächerte gekonnt drei Karten auf dem Tisch auf und drehte sie um. »Lexie hat gleich einen Straight auf der Hand«, sagte Justin und blickte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Den Blick kenn ich.«
Das Handy hatte anscheinend ein Vermögen für Rafe ausgegeben und wollte nicht tatenlos zusehen, wie die Investition den Bach runterging. »Hat sie nicht«, sagte Daniel. »Sie hat vielleicht was Gutes auf der Hand, aber für einen Straight reicht es nicht. Ich geh mit.«
Ich war weit von einem Straight entfernt, aber darum ging es nicht. Keiner von uns würde aussteigen, solange Rafe nicht auflegte. Das Handy hielt ein lautstarkes Plädoyer für einen richtigen Job. »Mit anderen Worten, einen Bürojob«, informierte Rafe uns. Die Steifheit wich allmählich aus seinem Rückgrat. »Ja, vielleicht hab ich dann eines Tages, wenn ich das Spiel mitspiele und über den Tellerrand hinausschaue und nicht bloß hart arbeite, sondern smart , sogar ein Büro mit Fenster. Oder will ich da zu hoch hinaus?«, fragte er das Handy. »Was meinst du?« Er signalisierte Justin pantomimisch, Ich erhöhe deinen Einsatz um zwei .
Das Handy – es wusste offenbar, dass es beleidigt wurde, auch wenn es nicht ganz sicher war, wie – sagte etwas Streitlustiges über Ehrgeiz und dass Rafe verdammt nochmal endlich erwachsen werden und anfangen sollte, in der realen Welt zu leben.
»Ha«, sagte Daniel und blickte auf. »Das ist eine Vorstellung, die mich schon immer fasziniert hat: die reale Welt. Nur eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen benutzt diesen Begriff, ist euch das schon mal aufgefallen? Für mich versteht sich von selbst, dass jeder in der realen Welt lebt – wir alle atmen realen Sauerstoff, essen reale Lebensmittel, die Erde unter unseren Füßen fühlt sich für uns alle fest an. Aber anscheinend haben diese Menschen eine enger gefasste Definition von Realität, die sich meinem Verständnis entzieht, und noch dazu ein fast pathologisch brennendes Bedürfnis, andere auf diese Definition einzuschwören.«
»Purer Neid«, sagte Justin mit Blick auf seine Karten und warf noch zwei Münzen in die Mitte. »Kirschen in Nachbars Garten.«
»Niemand«, sagte Rafe zum Handy und wedelte mit der Hand, damit wir leiser sprachen. »Das Fernsehen. Ich gucke von morgens bis abends Seifenopern, esse Pralinen und
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