Totengleich
im Teenageralter, und Lexie, das Nesthäkchen, die kapriziöse kleine Schwester, die mal verwöhnt und mal gehänselt wird.
Sie hatten vermutlich nicht mehr Ahnung von richtigen Familien als ich. Ich hätte gleich zu Anfang erkennen müssen, dass das eines der Dinge war, die sie gemeinsam hatten – Daniel verwaist, Abby in Pflege gegeben, Justin und Rafe verbannt, Lexie Gott weiß was, aber ihren Eltern nicht gerade nah. Ich war darüber hinweggegangen, weil es auch mein Standardmodus war. Bewusst oder unterbewusst hatten sie jedes papierdünne Stückchen, das sie finden konnten, zu einem eigenen behelfsmäßigen Bild von einer Familie zusammengefügt, und dann hatten sie sich selbst dazu gemacht.
Die vier waren erst etwa achtzehn gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Ich betrachtete sie unter meinen Wimpern hindurch – Daniel, der die Flasche gegen das Licht hielt, um zu sehen, ob noch Wein drin war, Abby, die Ameisen vom Kuchenteller schnippte –, und ich fragte mich, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie einander unterwegs verfehlt hätten.
Das löste eine ganze Menge Gedanken in mir aus, aber sie waren diffus und zu schnell, und ich fand, dass ich mich einfach viel zu wohl fühlte, um sie jetzt in irgendeine Form bringen zu wollen. Die konnten noch ein paar Stunden warten, bis zu meinem Spaziergang. »Ich auch«, sagte ich zu Daniel und hielt ihm mein Glas hin, damit er mir Wein nachschenkte.
»Bist du betrunken?«, wollte Frank wissen, als ich ihn anrief. »Du hast dich vorhin ganz schön angeschickert angehört.«
»Entspann dich, Frankie«, sagte ich. »Ein paar Gläschen Wein beim Essen. Davon werd ich nicht betrunken.«
»Hoffentlich. Es mag dir vorkommen wie Urlaub, aber ich will nicht, dass du es wie Urlaub behandelst. Bleib wachsam.«
Ich trödelte über einen mit Schlaglöchern übersäten Weg oberhalb des Cottages. Ich hatte viel darüber nachgedacht, wie Lexie in dem Cottage gelandet war. Wir alle waren selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie Schutz gesucht und es nicht bis Whitethorn House oder ins Dorf geschafft hatte, entweder weil der Mörder ihr den Weg versperrte oder weil ihre Kräfte zu schnell schwanden, so dass sie das nächste Versteck angesteuert hatte, das sie kannte. N veränderte diese Theorie. Angenommen, N war eine Person, kein Pub oder eine Radiosendung oder ein Pokerspiel, dann hatten sie sich irgendwo treffen müssen, und die Tatsache, dass in dem Terminkalender keine Orte erwähnt waren, besagte, dass sie jedes Mal denselben Treffpunkt gehabt hatten. Und wenn sie sich nachts getroffen hatten, dann bot sich das Cottage geradezu an: abgeschieden, praktisch, wind- und wettergeschützt und so gelegen, dass sich unmöglich jemand unbemerkt anschleichen konnte. Denkbar, dass sie an dem Abend ohnehin auf dem Weg dorthin war, noch vor dem Überfall, und dann einfach weiterging – vielleicht wie auf Autopilot, nachdem N sie verwundet hatte; vielleicht weil sie hoffte, dass N dort wäre, um ihr zu helfen.
Es war nicht gerade eine Spur, von der Detectives träumen, aber es war so ziemlich das Beste, was ich hatte, daher trieb ich mich auf meinen Spaziergängen viel in der näheren Umgebung des Cottages herum und hoffte, N wäre so nett, eines Nachts dort aufzutauchen. Ich hatte mir auf dem Feldweg einen Abschnitt ausgesucht, der vorteilhaft war: Von dort konnte ich das Cottage einigermaßen gut im Auge behalten, während ich mit Frank oder Sam telefonierte. »Ich bin wachsam«, sagte ich. »Und ich muss dich was fragen. Hab ich das richtig in Erinnerung, dass Daniels Großonkel im September gestorben ist?«
Ich hörte, wie Frank herumkramte, Seiten umblätterte. Entweder hatte er die Akte mit nach Hause genommen, oder er war noch im Büro. »Am dritten Februar. Daniel hat die Schlüssel zum Haus am zehnten September erhalten. Die Testamentsabwicklung hat wohl ein Weilchen gedauert. Wieso?«
»Kannst du rausfinden, woran der Großonkel gestorben ist und wo die fünf an dem Tag waren? Und warum die Testamentsabwicklung so lange gedauert hat? Als meine Großmutter mir einen Tausender vermacht hat, hab ich den sechs Wochen später gekriegt.«
Frank stieß einen Pfiff aus. »Du denkst, sie haben Großonkel Simon abserviert, um an das Haus zu kommen? Und dann hat Lexie die Nerven verloren?«
Ich seufzte und fuhr mir mit einer Hand durchs Haar, überlegte, wie ich es am besten erklären sollte. »Nicht direkt. Das heißt, eigentlich gar nicht. Aber sie benehmen sich
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