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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Regan’s wird keinem das Rauchen verboten. Und über die kleinen Wege ist es ein Katzensprung. Findest du es nicht sonderbar, dass sie nie hingehen?«
    Ich zuckte die Achseln. »Sie sind sonderbar. Sie sind nicht besonders kontaktfreudig, falls du das noch nicht gemerkt hast. Und vielleicht ist das Regan’s die letzte Kaschemme.«
    »Vielleicht«, sagte Sam, aber er klang nicht überzeugt. »Du warst bei Dunne’s im Stephen’s Green Centre einkaufen, als du an der Reihe warst, stimmt’s? Wo gehen die anderen einkaufen?«
    »Woher soll ich das wissen? Justin war gestern bei Marks & Sparks. Keine Ahnung, wo die anderen hingehen. Frank hat gesagt, Lexie ist zu Dunne’s gegangen, also geh ich auch zu Dunne’s.«
    »Was ist mit dem Zeitschriftenladen im Dorf? War da schon mal einer?«
    Ich überlegte. Rafe war einmal abends Zigaretten holen gegangen, aber er war hinten raus, in Richtung Tankstelle an der Straße nach Rathowen, nicht Richtung Glenskehy. »Nicht, seit ich hier bin. Wieso?«
    »Ich hab mich bloß gefragt«, sagte Sam langsam. »Na ja, es ist ein Dorf. Ihr wohnt da in dem Herrenhaus. Daniel stammt aus der Herrenhausfamilie. In den meisten Gegenden spielt so was keine Rolle mehr, aber ab und zu, je nachdem, was in der Vergangenheit war … ich hab mich bloß gefragt, ob es da vielleicht irgendwelche unguten Gefühle gibt.«
    Seit Menschengedenken hatten die Briten in Irland nach dem Feudalsystem geherrscht: Sie vergaben Dörfer an angloirische Familien und überließen es ihnen, über das Land und die Bewohner nach Gutdünken zu verfügen, was oftmals weidlich ausgenutzt wurde, wie man sich denken kann. Mit der Unabhängigkeit brach das System zusammen. Ein paar welke, alte Exzentriker haben sich noch gehalten, leben überwiegend in vier Räumen und öffnen den Rest des Anwesens für die Öffentlichkeit, um anfallende Reparaturen bezahlen zu können, doch ein großer Teil der Herrenhäuser ist von Konzernen aufgekauft und in Hotels oder Wellness-Einrichtungen oder was auch immer umgewandelt worden, und alle haben schon fast vergessen, was sie einmal waren. Doch hier und da, wo die Geschichte in einer Gegend tiefere Narben hinterlassen hat als in den meisten, erinnern sich die Leute.
    Und das hier war Wicklow. Über Jahrhunderte hinweg waren höchstens einen Tagesmarsch von der Stelle entfernt, an der ich stand, Aufstände geplant worden. In diesen Hügeln hatten die Menschen auf seiten der Partisanen gekämpft, sie vor Soldaten versteckt, die durch dunkle Nächte irrten. Cottages wie das von Lexie waren leer und blutig zurückgelassen worden, wenn die Briten jeden erschossen, der ihnen über den Weg lief, bis sie den einen versteckten Rebellen fanden, den sie suchten. Jede Familie hat ihre Geschichten.
    Sam hatte recht, ich war schon viel zu lange in der großen Stadt. Dublin ist so modern, dass es fast an Hysterie grenzt, und alles vor dem Breitband wird als peinlicher kleiner Witz betrachtet. Ich hatte sogar vergessen, wie es war, an einem Ort zu leben, der Erinnerungen hatte. Sam stammt vom Lande, aus Galway. Er weiß noch, wie das ist. Die letzten Fenster des Cottages waren vom Mondschein erhellt, und es sah aus wie ein Geisterhaus, geheimnisvoll und wachsam.
    »Könnte sein«, sagte ich. »Aber ich wüsste nicht, was das mit unserem Fall zu tun haben soll. Vielleicht guckt manch einer die jungen Leute aus dem Herrenhaus im Zeitschriftenladen schief an, bis sie nicht mehr kommen, aber das heißt noch lange nicht, dass er auf eine von ihnen mit dem Messer losgehen würde, weil der Gutsherr 1848 seine Urgroßmutter mies behandelt hat.«
    »Wahrscheinlich. Ich überprüfe das trotzdem mal, nur für alle Fälle. Man kann ja nie wissen.«
    Ich drückte mich tiefer in die Hecke, spürte eine rasche Vibration durch die Zweige, als irgendetwas davonhuschte. »Ach, hör doch auf. Für wie verrückt hältst du die Leute hier?«
    Kurzes Schweigen. »Ich sage nicht, dass sie verrückt sind«, stellte Sam schließlich klar.
    »Du sagst aber, einer von ihnen könnte Lexie wegen etwas ermordet haben, das eine Familie, die absolut nichts mit ihr zu tun hat, vor hundert Jahren getan hat. Und ich sage, dieser jemand sollte zumindest mehr unter Leute gehen und sich eine Freundin suchen, die nicht jeden Sommer geschoren werden muss.« Ich wusste nicht, warum mir die Vorstellung so gegen den Strich ging, oder auch, warum ich mich so zickig aufführte. Es hatte irgendetwas mit dem Haus zu tun, glaube ich. Ich hatte schon

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