Totengleich
Kirschen mit zur Uni nehmen und in der Mittagspause essen.«
»Rafe kriegt keine«, sagte Abby, legte die Zeitung hin und ging zum Kühlschrank. »Wisst ihr noch, wie seine Tasche gemüffelt hat? Da hat er eine halbe Banane ins Innenfach gesteckt und dann völlig vergessen. Von nun an kriegt er von uns nur noch was zu essen, wenn er es vor unseren Augen verspeist. Lex, hilfst du mir, die Kirschen einzupacken?«
Es war so reibungslos gegangen, dass ich es nicht mal mitbekam. Abby und ich teilten die Kirschen in vier Portionen auf und packten sie zu den Sandwichs, Rafe aß am Ende fast alle auf, und ich vergaß die ganze Sache, bis zum nächsten Abend.
Wir hatten ein paar von den nicht ganz so hässlichen Vorhängen gewaschen und brachten sie in den Gästezimmern an, eher als Wärmedämmung als aus ästhetischen Gründen – wir hatten einen einzigen Nachtspeicherofen und den Kamin für das ganze Haus, im Winter mussten arktische Temperaturen geherrscht haben. Justin und Daniel hängten im Gästezimmer im ersten Stock Vorhänge auf, wir drei anderen in denen ganz oben. Abby und ich waren dabei, die Ringe einzuhaken, damit Rafe die Vorhänge auf die Stange schieben konnte, als wir unter uns ein lautes Poltern hörten, gefolgt von einem Aufschrei von Justin. Dann rief Daniel: »Keine Sorge, nichts passiert.«
»Was war das?«, sagte Rafe. Er balancierte bedenklich auf der Fensterbank und hielt sich mit einer Hand an der Vorhangstange fest.
»Irgendjemand ist irgendwo runtergefallen«, sagte Abby, den Mund voller Vorhangringe, »oder über irgendwas drüber. Ich glaube, er hat’s überlebt.«
Plötzlich drang ein leiser überraschter Laut durch die Dielenbretter, und Justin rief: »Lexie, Abby, Rafe, kommt mal schnell! Das müsst ihr euch ansehen!«
Wir rannten nach unten. Daniel und Justin knieten auf dem Boden, mitten in einem Wust von merkwürdigen alten Gegenständen, und eine Sekunde lang dachte ich, es hätte sich doch jemand verletzt. Dann sah ich, worauf sie blickten. Auf dem Boden zwischen ihnen lag ein steifer, fleckiger Lederbeutel, und Daniel hielt einen Revolver in der Hand.
»Daniel ist von der Leiter gefallen«, sagte Justin, »und hat eine Kiste umgestoßen, dabei ist das ganze Zeug hier rausgekippt und das Ding da direkt vor seinen Füßen gelandet. Möchte nicht wissen, was hier noch so alles versteckt ist.«
Es war ein Webley, ein wunderschönes Exemplar, mit schimmernder Patina zwischen verkrustetem Dreck. »Ach du Schande«, sagte Rafe, ließ sich neben Daniel auf die Knie fallen und berührte den Lauf der Waffe. »Das ist ein Webley Mark Six, noch dazu ein alter. Das war der offizielle Armeerevolver im Ersten Weltkrieg. Der Typ, dem du ähnlich siehst, Daniel, dieser verrückte Großonkel, oder was war er noch mal, dem könnte das Ding gehört haben.«
Daniel nickte. Er studierte den Revolver kurz, klappte ihn dann auf: ungeladen. »William«, sagte er. »Das könnte seiner gewesen sein, ja.« Er schloss die Trommel wieder, legte dann die Hand ganz vorsichtig, sanft, um den Griff.
»Ganz schön verdreckt«, sagte Rafe, »aber das ist kein Problem. Ein paar Tage in einem guten Lösungsmittel einweichen und dann mit einer Bürste bearbeiten. Ich vermute, Munition wäre zu viel verlangt.«
Daniel lächelte ihn an, ein rasches, unerwartetes Grinsen. Er drehte den Lederbeutel um, und eine verblichene Pappschachtel Patronen fiel heraus.
»Oh, wunderbar«, sagte Rafe, nahm die Schachtel und rüttelte sie. Das Klappern verriet mir, dass sie fast voll war, mit etwa neun oder zehn Patronen. »Der ist bald wieder wie neu. Ich besorg das Lösungsmittel.«
»Lass lieber die Finger von dem Ding, wenn du dich nicht damit auskennst«, sagte Abby. Sie hatte sich als Einzige nicht auf den Boden gesetzt, um sich die Waffe genauer anzusehen, und sie klang nicht gerade begeistert von der ganzen Idee. Ich war mir auch nicht sicher, was ich davon hielt. Der Webley war ein Prachtstück, und ich hätte ihn für mein Leben gern ausprobiert, aber ein Undercovereinsatz bekommt eine ganz andere Qualität, wenn irgendwo eine Schusswaffe im Spiel ist. Sam würde das überhaupt nicht gefallen.
Rafe verdrehte die Augen. »Wie kommst du darauf? Mein Vater hat mich jedes Jahr mit auf die Jagd genommen, seit ich sieben war. Ich kann einen fliegenden Fasan aus der Luft holen, von fünf Schüssen treffen drei. Einmal sind wir rauf nach Schottland –«
»Ist das überhaupt legal, so ein Ding zu haben?«, wollte Abby
Weitere Kostenlose Bücher