Totengleich
beschriebenen Seite auf. Auf jedem Quadratzentimeter seines Schreibtischs häuften sich Bücher und lose Blätter und Fotokopien mit markierten Passagen. Justin konnte nur arbeiten, wenn er alles in bequemer Reichweite hatte, was er möglicherweise brauchen würde.
»Mir ist langweilig, und die Sonne scheint«, sagte ich. »Lass uns Mittagspause machen.«
Er sah auf die Uhr. »Ist doch erst zwanzig vor eins.«
»Lebe wild und gefährlich«, sagte ich.
Justin blickte unsicher. »Und Rafe?«
»Der ist groß und hässlich genug, um auf sich selbst aufzupassen. Er kann ja auf Abby und Daniel warten.« Für eine Entscheidung dieser Größenordnung sah Justin noch viel zu verunsichert aus, und ich schätzte, dass mir noch etwa eine Minute blieb, um ihn von hier wegzulocken, ehe Rafe zurückkam. »Och, Justin, nun komm schon. Sonst mach ich die ganze Zeit das hier.« Ich fing an, mit den Fingernägeln einen nervigen Rhythmus auf die Trennwand zu trommeln.
»Oh Gott«, sagte Justin und legte seinen Stift hin. »Die chinesische Geräuschfolter. Ich ergebe mich.«
Der nächstliegende Ort für ein Pausenpicknick war am Rand vom New Square, aber das war von der Bibliothek aus einsehbar, also schleifte ich Justin rüber zum Kricketfeld, wo Rafe uns nicht so schnell finden würde. Es war ein heller, kalter Tag, der Himmel hoch und blau und die Luft wie Eiswasser. Weiter unten vor dem Pavillon stellten einige Kricketspieler ernsthafte, streng stilisierte Sachen miteinander an, und in unserer Nähe spielten vier Jungs Frisbee, wobei sie geflissentlich den Eindruck zu erwecken versuchten, als wollten sie damit nicht den drei handelsüblich zurechtgemachten Mädchen auf einer Bank imponieren, die sich ihrerseits bemühten, so zu tun, als sähen sie nicht hin. Balzverhalten: Es war Frühling.
»Und?«, sagte Justin, nachdem wir uns im Gras niedergelassen hatten. »Wie kommst du mit dem Kapitel voran?«
»Gar nicht«, sagte ich und kramte in meiner Büchertasche nach einem Sandwich. »Ich hab noch kein einziges Wort geschrieben, seit ich zurück bin. Ich kann mich nicht konzentrieren.«
»Na ja«, sagte Justin nach einem Moment. »Das ist bestimmt ganz normal. In der ersten Zeit.«
Ich zuckte die Achseln, ohne ihn anzusehen.
»Das gibt sich wieder. Ganz bestimmt. Jetzt, wo du zu Hause bist und alles wieder normal läuft.«
»Ja. Kann sein.« Ich fand mein Sandwich, betrachtete es angewidert und warf es ins Gras: Nur wenige Dinge bekümmerten Justin so sehr, wie wenn Leute nicht aßen. »Es ist einfach ätzend, dass ich nicht weiß, was passiert ist. Es ist total ätzend. Es geht mir nicht aus dem Kopf … die Bullen haben so Andeutungen gemacht, sie hätten Spuren und so, aber sie haben mir nichts verraten. Verdammt nochmal, ich bin schließlich niedergestochen worden. Wenn einer das Recht hat, was zu erfahren, dann doch wohl ich.«
»Aber ich hab gedacht, du fühlst dich besser. Du hast gesagt, es geht dir gut.«
»Ja, hab ich. Ach, egal.«
»Wir haben gedacht … Ich meine, ich hätte nicht gedacht, dass du so verstört bist. Dass du ständig dran denkst. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
Ich schielte zu ihm rüber, aber er sah nicht misstrauisch aus, nur besorgt. »Tja«, sagte ich. »Ich bin vorher ja auch noch nie niedergestochen worden.«
»Nein«, sagte Justin. »Wohl wahr.« Er baute seinen Lunch im Gras auf: eine Flasche Orangensaft auf der einen Seite, eine Banane auf der anderen, ein Sandwich in der Mitte. Er kaute auf der Lippe.
»Weißt du, woran ich immer denken muss?«, sagte ich unvermittelt. »An meine Eltern.« Schon allein es auszusprechen löste ein kurzes, unvermutetes, kleines Prickeln aus.
Justins Kopf fuhr hoch, und er starrte mich an. »Was ist denn mit ihnen?«
»Vielleicht sollte ich mich bei ihnen melden. Ihnen erzählen, was passiert ist.«
»Keine Vergangenheit«, sagte Justin augenblicklich, wie eine Formel zum Schutz gegen Unglück. »Das haben wir abgemacht.«
Ich zuckte die Achseln. »Na und? Ihr habt gut reden.«
»So leicht ist das nun auch nicht.« Als ich nicht antwortete: »Lexie? Ist das dein Ernst?«
Ich zuckte gereizt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Aber ich dachte, du kannst sie nicht ausstehen. Du hast gesagt, du wolltest nie wieder ein Wort mit ihnen reden.«
»Darum geht’s nicht.« Ich wickelte mir den Riemen meiner Büchertasche um den Finger und zog ihn zu einer langen Spirale auseinander. »Mir geht bloß dauernd durch den Kopf … Ich hätte
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