Totengleich
neben dem Feldweg, ein dunkler Strich durchs Gras. Es war zu klein für einen Menschen, aber ich wich trotzdem tiefer in den Schatten des Baumes. »Zweite Möglichkeit. Auslöser für die Kampagne gegen Whitethorn House könnte irgendein Streit mit Simon March gewesen sein – er scheint ein grantiger alter Mistkerl gewesen zu sein, gut möglich, dass er einigen Leuten gehörig auf den Senkel gegangen ist –, aber im Kopf des Burschen, den du suchst, geht die Sache wesentlich tiefer. Für ihn geht es um ein totes Baby. Und davon wissen Byrne und Doherty absolut nichts, stimmt’s? Wie lange sind sie schon hier?«
»Doherty erst zwei Jahre, aber Byrne schon seit 1997. Er sagt, letztes Frühjahr hat es im Dorf einen Fall von plötzlichem Kindstod gegeben, und vor ein paar Jahren ist ein kleines Mädchen auf einer Farm in eine Jauchegrube gefallen und ertrunken, aber das war auch schon alles. Beide Todesfälle völlig unverdächtig und keinerlei Verbindung zu Whitethorn House. Und auch der Computer hat keine weiteren Fälle aus der Gegend ausgespuckt.«
»Dann suchen wir nach etwas, das länger zurückliegt«, sagte ich, »genau wie du dir gedacht hast. Weiß Gott wie lange. Weißt du noch, was du mir über die Purcells erzählt hast, aus deiner Gegend?«
Eine Pause. »Dann finden wir es nie raus. Das Zentralarchiv, klar.«
Die meisten Behördenakten Irlands gingen 1921 im Bürgerkrieg bei einem Brand in Flammen auf. »Du brauchst keine Akten. Die Leute hier wissen von der Sache, das garantier ich dir. Wann immer das Baby auch gestorben ist, der Typ, den du suchst, hat davon nicht aus einer alten Zeitung erfahren. Dafür ist er viel zu besessen davon. Für ihn ist das keine alte Geschichte. Er empfindet einen realen, frischen Hass, und er sinnt auf Rache.«
»Willst du damit sagen, er ist verrückt?«
»Nein«, erwiderte ich. »Nicht so, wie du es meinst. Er ist viel zu vorsichtig – wartet stets auf den sicheren Zeitpunkt, tritt den Rückzug an, wenn er gejagt wird … Wäre er, sagen wir, schizophren oder bipolar, hätte er nicht so viel Kontrolle über sich. Er hat keine psychische Störung. Aber seine Obsession ist so stark, dass man ihn wohl als ziemlich unausgeglichen bezeichnen muss.«
»Könnte er gewalttätig werden? Gegen Menschen, meine ich, nicht bloß gegen Sachen.« Sams Stimme war wieder klarer, er hatte sich aufrecht hingesetzt.
»Da bin ich mir nicht sicher«, sagte ich vorsichtig. »Scheint nicht sein Stil zu sein – ich meine, er hätte die Schlafzimmertür vom alten Simon aufbrechen und ihm eins mit dem Schürhaken überbraten können, wenn er gewollt hätte, aber das hat er nicht. Aber da er immer nur dann aktiv wird, wenn er betrunken ist, glaube ich, dass er ein ungesundes Verhältnis zu Alkohol hat – einer von den Typen, die nach vier oder fünf Bier eine ganz neue Persönlichkeit entwickeln, und keine besonders nette. Sobald Alkohol im Spiel ist, wird alles unberechenbarer. Und wie gesagt, er ist von der Sache besessen. Wenn er den Eindruck bekommen hat, dass der Feind den Konflikt verschärft – zum Beispiel, indem er ihn nach dem Steinwurf durchs Küchenfenster verfolgt hat –, könnte es gut sein, dass er härtere Saiten aufgezogen hat.«
»Du weißt, wonach sich das anhört«, sagte Sam nach einer Pause, »nicht? Gleiches Alter, aus der Gegend, clever, beherrscht, kriminelle Erfahrung, aber nicht gewalttätig … «
Das Profil, das ich ihm noch in meiner Wohnung geliefert hatte, das Profil des Killers. »Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«
»Im Grunde sagst du gerade, er könnte unser Täter sein. Lexies Mörder.«
Der Schattenstrich war wieder da, flink und lautlos durch Gras und Mondlicht: ein Fuchs vielleicht, der eine Feldmaus jagte. »Er könnte es sein«, sagte ich. »Wir können ihn nicht ausschließen.«
»Wenn eine Familienfehde hinter der Sache steckt«, sagte Sam, »dann war Lexie nicht das konkrete Ziel, dann hatte ihr Leben nichts damit zu tun, und du musst nicht mehr dableiben. Du kannst nach Hause kommen.«
Die Hoffnung in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. »Ja«, sagte ich, »vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass wir jetzt schon so weit sind. Wir haben keine konkrete Verbindung zwischen dem Vandalismus und dem Mord. Gut möglich, dass das eine absolut nichts mit dem anderen zu tun hat. Und wenn wir die Sache erst einmal beendet haben, können wir nicht zurück.«
Eine ganz kurze Pause. Dann: »In Ordnung. Also such ich weiter nach der Verbindung.
Weitere Kostenlose Bücher