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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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hier sterben können. Könnte jetzt tot sein. Und meine Eltern hätten es nicht mal erfahren.«
    »Wenn mir was passiert«, sagte Justin, »will ich nicht, dass meine Eltern verständigt werden. Ich will sie nicht dahaben. Ich will nicht, dass sie es erfahren.«
    »Warum nicht?« Er fummelte am Verschluss seiner Saftflasche herum, den Kopf gesenkt. »Justin?«
    »Ach, egal. Ich wollte jetzt nicht von mir anfangen.«
    »Nein. Erzähl’s mir, Justin. Warum nicht?«
    Nach einem Moment sagte Justin: »In unserem ersten Jahr als Doktoranden bin ich über Weihnachten nach Hause gefahren, nach Belfast. Das war kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Weißt du noch?«
    »Ja«, sagte ich. Er sah mich nicht an. Er starrte blinzelnd zu den Kricketspielern hinüber, die sich weiß und feierlich wie Gespenster gegen das Grün abhoben. Das Knallen des Schlägers trieb verspätet und fast verträumt zu uns herüber.
    »Ich hab meinem Vater und meiner Stiefmutter gesagt, dass ich schwul bin. An Heiligabend.« Ein kleines, humorlos schnaubendes Lachen. »Gott steh mir bei, ich glaube, ich hab gedacht, die Weihnachtsstimmung – Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen … Und ihr vier hattet es so völlig locker aufgenommen. Weißt du, wie Daniel reagiert hat, als ich es ihm erzählte? Er hat ein paar Minuten überlegt und dann erklärt, homo und hetero seien Konstruktionen der Moderne und die Haltung zur Sexualität sei bis in die Renaissance hinein sehr viel fließender gewesen. Und Abby hat die Augen verdreht und mich gefragt, ob sie jetzt überrascht tun soll. Bei Rafe war ich am unsichersten – wieso, weiß ich auch nicht –, aber er hat bloß gegrinst und gesagt: ›Weniger Konkurrenz für mich.‹ Was wirklich nett von ihm war. Schließlich war ich nie eine echte Konkurrenz für ihn … Das war für mich alles eine große Erleichterung, verstehst du? Und wahrscheinlich hat mich das auf die Idee gebracht, dass es vielleicht doch nicht so schlimm wäre, es meiner Familie zu sagen.«
    »Mir war nicht klar, dass du es ihnen gesagt hast«, warf ich ein. »Hast du nie erzählt.«
    »Na ja«, sagte Justin. Er zupfte behutsam die Frischhaltefolie von seinem Sandwich, um keinen Senf auf die Finger zu bekommen. »Meine Stiefmutter ist eine furchtbare Frau, weißt du. Wirklich furchtbar. Ihr Vater ist Zimmermann, aber sie erzählt allen, er wäre Kunsthandwerker, was auch immer sie sich darunter vorstellen mag, und sie lädt ihn nie zu irgendwelchen Festen ein. Alles an ihr ist durch und durch Mittelschicht – wie sie spricht, die Klamotten, die Frisur, das Porzellandekor, als hätte sie sich selbst im Katalog bestellt –, aber man merkt ihr förmlich an, was sie das alles für eine Riesenanstrengung kostet. Ihren Boss zu heiraten muss für sie so ähnlich gewesen sein, wie den Heiligen Gral zu finden. Ich will nicht behaupten, dass mein Vater mein Schwulsein akzeptiert hätte, wenn sie nicht gewesen wäre – er sah aus, als würde ihm gleich schlecht –, aber sie hat alles noch viel, viel schlimmer gemacht. Sie war regelrecht hysterisch. Sie hat zu meinem Vater gesagt, sie will mich aus dem Haus haben, auf der Stelle. Und zwar für immer.«
    »Mein Gott, Justin.«
    »Sie guckt dauernd diese Trashserien im Fernsehen«, sagte Justin. »Da werden alle naslang irgendwelche sündigen Söhne davongejagt. Sie hat rumgekreischt, richtig rumgekreischt: ›Denk doch an die Jungs!‹ – sie meinte meine Halbbrüder. Ich weiß nicht, ob sie Angst hatte, ich würde sie ans andere Ufer locken oder mich an ihnen vergehen oder was, aber ich hab gesagt – und das war ziemlich gemein, aber du kannst dir vorstellen, wie aufgebracht ich war –, ich hab gesagt, sie bräuchte sich keine Sorgen zu machen, weil nämlich kein Schwuler, der was auf sich hält, diese hässlichen kleinen Monster auch nur mit der Kneifzange anfassen würde. Und dann ist die Situation eskaliert. Sie hat mit Sachen geschmissen, ich hab rumgeschimpft, die Monster haben sogar ihre PlayStation mal für einen Moment verlassen, um nachzusehen, was los war. Sie wollte sie aus dem Zimmer zerren – wahrscheinlich, damit ich nicht gleich an Ort und Stelle über sie herfiel –, und prompt fingen sie auch noch an zu kreischen … Schließlich hat mein Vater gesagt, es wäre besser, ich würde gehen und ›vorläufig‹ nicht wiederkommen, aber wir wussten beide, was er meinte. Er hat mich zum Bahnhof gefahren und mir hundert Euro in die Hand gedrückt. Zu Weihnachten.«

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