Totengleich
gewesen, ich wäre dahingeschmolzen. »Sehen Sie, da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Sie sich an etwas Neues erinnert haben, Miss Madison, aber sich nicht trauen, es mir zu sagen. Vielleicht, weil Sie fürchten, ich könnte es fehlinterpretieren und die falsche Person könnte Schwierigkeiten bekommen? Ist das der Grund?«
Ich warf ihm einen raschen Blick zu, als wollte ich mich rückversichern. »Irgendwie schon. Ja, kann sein.«
Er lächelte mich an, ein Netz von Fältchen um die Augen. »Glauben Sie mir, Miss Madison. Wir bezichtigen niemanden einer schwerwiegenden Straftat, solange wir keine schwerwiegenden Beweise in der Hand haben. Wir würden also nicht allein aufgrund Ihrer Aussage eine Verhaftung vornehmen.«
Ich zuckte die Achseln, schnitt meinem Kaffeebecher eine Grimasse. »Es ist nichts Berauschendes. Wahrscheinlich hat es nicht mal was zu bedeuten.«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein, okay?«, sagte Frank beschwichtigend. Hätte nicht viel gefehlt, und er hätte mir die Hand getätschelt. »Sie würden sich wundern, was uns alles weiterhelfen kann. Und wenn nicht, schadet es auch niemandem, hab ich recht?«
»Okay«, sagte ich und atmete geräuschvoll aus. »Es ist bloß … Okay. Ich erinnere mich an Blut. Ganz viel Blut an meinen Händen.«
»Na, sehen Sie«, sagte Frank, das beruhigende Lächeln weiter eingeschaltet. »Gut gemacht. So schlimm war das doch gar nicht, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Können Sie sich erinnern, was Sie da gemacht haben? Haben Sie gestanden? Gesessen?«
»Gestanden«, sagte ich. Das Beben in meiner Stimme kam ganz ohne mein Zutun. Ein paar Meter entfernt, in den Verhörräumen, die ich kannte wie meine Westentasche, saß Daniel und wartete geduldig, dass irgendwer zurückkam, und die anderen drei wurden langsam und in aller Stille immer nervöser. »Gegen eine Hecke gelehnt – es war stachelig. Ich hab … « Ich stellte pantomimisch dar, wie ich vorn an meinem Top den Stoff zusammengedreht hatte, drückte die Hand gegen die Rippen. »So. Um die Blutung … zu stoppen. Aber es hat nichts genützt.«
»Hatten Sie Schmerzen?«
»Ja«, sagte ich, leise. »Es tat weh. Sehr. Ich dachte … ich hatte Angst, ich würde sterben.«
Wir waren ein gutes Gespann, Frank und ich. Wir waren auf derselben Wellenlänge. Wir arbeiteten so reibungslos zusammen wie Abby und ich, wenn wir Frühstück machten, so reibungslos wie zwei Profifolterer. Du kannst nicht beides sein, hatte Daniel zu mir gesagt. Und: Sie war niemals grausam .
»Sie machen das ganz toll«, sagte Frank. »Jetzt, wo erste Erinnerungen zurückkommen, werden Sie sich im Nu an alles erinnern, Sie werden sehen. Das haben die Ärzte doch prophezeit, nicht? Wenn die Schleusentore erst mal aufgegangen sind … « Er blätterte in einer Akte und holte eine Landkarte hervor, eine von denen aus unserer Trainingswoche. »Glauben Sie, Sie könnten mir zeigen, wo Sie waren?«
Ich ließ mir Zeit, suchte mir eine Stelle aus, die ungefähr auf drei Viertel der Strecke vom Haus zum Cottage lag, und legte den Finger darauf. »Vielleicht da. Ich bin nicht sicher.«
»Sehr gut«, sagte Frank und notierte sich kurz etwas in seinem Notizbuch. »Jetzt möchte ich, dass Sie noch etwas für mich tun. Sie stehen also gegen die Hecke gelehnt, und Sie bluten, und Sie haben Angst. Können Sie versuchen, von da an zurückzudenken? Was haben Sie unmittelbar davor gemacht?«
Ich hielt die Augen auf die Karte gerichtet. »Ich war ganz außer Atem, als wäre ich … gerannt. Ich bin gerannt. So schnell, dass ich hingefallen bin. Ich hab mir das Knie aufgeschlagen.«
»Von wo? Denken Sie nach. Wovor sind Sie weggerannt?«
»Ich –« Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich kann nicht sagen, was wirklich passiert ist und was ich bloß … geträumt hab oder so. Vielleicht hab ich auch alles geträumt, sogar das Blut.«
»Möglich, ja«, sagte Frank und nickte nachsichtig. »Das werden wir berücksichtigen. Aber nur für alle Fälle sollten Sie mir alles erzählen – sogar die Teile, die Sie womöglich geträumt haben. Wir kriegen das schon sortiert. Okay?«
Ich machte eine lange Pause. »Das ist alles«, sagte ich schließlich, zu schwach. »Ich bin gerannt und hingefallen. Und das Blut. Das ist alles.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Absolut. Mehr fällt mir nicht ein.«
Frank seufzte. »Mein Problem ist folgendes, Miss Madison«, sagte er. Ein feiner, stählerner Unterton schlich sich in
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