Totengleich
einem Blick in die Runde, dass er auch die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. »Das Opfer«, sagte er, »war eine gesunde weiße Frau, hundertfünfundsechzig Zentimeter groß, fünfundfünfzig Kilo schwer. Keine Narben, Tätowierungen oder sonstige Erkennungszeichen. Sie hatte einen Blutalkoholgehalt von 0,3 Promille, was drei oder vier Gläsern Wein entspricht, die einige Stunden zuvor konsumiert wurden. Das toxikologische Screening ergab keinerlei Hinweise auf sonstige Substanzen – das Opfer hatte kurz vor Eintritt des Todes keine Drogen, Toxine oder Medikamente konsumiert. Alle Organe bewegten sich im Rahmen des Normalen. Ich habe keinerlei Defekte oder Krankheitsanzeichen festgestellt. Die Epiphysen der langen Knochen sind vollständig verschmolzen, und die Suturen, das heißt die inneren Nahtstellen der Schädelknochen, zeigen erste Anzeichen von Verschmelzung, womit das Alter der Frau bei Ende zwanzig anzusiedeln ist. Das Becken verrät eindeutig, dass sie nie ein Kind zur Welt gebracht hat.« Er griff nach seinem Wasserglas und trank einen bedächtigen Schluck, aber ich wusste, dass er noch nicht fertig war. Er machte eine Kunstpause. Cooper hatte noch etwas in petto.
Er stellte das Glas hin, richtete es säuberlich in der Ecke des Schreibtisches aus. »Sie war allerdings«, sagte er, »im frühen Stadium einer Schwangerschaft.« Er lehnte sich zurück und beobachtete die Wirkung.
»Ach du Schande«, sagte Sam leise. Frank lehnte sich gegen die Wand und pfiff, einen langen, leisen Ton. O'Kelly verdrehte die Augen.
Das hatte diesem Fall gerade noch gefehlt. Ich wünschte, ich wäre so klug gewesen, mich hinzusetzen. »Hat irgendwer von ihren Mitbewohnern das erwähnt?«, fragte ich.
»Nicht einer«, sagte Frank, und Sam schüttelte den Kopf. »Unser Mädel hatte offenbar Geheimnisse vor ihren engsten Freunden.«
»Vielleicht hat sie es selbst noch nicht gewusst«, sagte ich. »Falls ihr Zyklus unregelmäßig war –«
»Menschenskind, Maddox!«, sagte O'Kelly entsetzt. »Verschonen Sie uns doch mit so was. Schreiben Sie das in Ihren Bericht oder so.«
»Besteht die Chance, den Vater anhand von DNA zu bestimmen?«, fragte Sam.
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, sagte Cooper, »wenn eine Probe vom mutmaßlichen Vater vorliegt. Der Embryo war etwa vier Wochen alt, knapp unter einem halben Zentimeter lang und –«
»Himmelherrgott!«, sagte O'Kelly. Cooper grinste. »Lassen Sie die verdammten Einzelheiten weg und kommen Sie zum Punkt. Wie ist sie gestorben?«
Cooper machte eine betont lange Pause, um allen zu zeigen, dass er sich von O'Kelly nichts sagen ließ. »Irgendwann am Mittwochabend«, sagte er, als er fand, dass er seinen Standpunkt klargemacht hatte, »erhielt sie einen einzigen Messerstich rechts in den Brustkorb. Der Angriff erfolgte höchstwahrscheinlich von vorn: Der Winkel und die Eintrittsstelle wären von hinten schwierig zu bewerkstelligen. Ich habe an beiden Handflächen und an einem Knie leichte Hautabschürfungen festgestellt, vermutlich die Folge eines Aufpralls auf harten Boden, aber keine Abwehrverletzungen. Der Stich erfolgte mit einer mindestens sieben Zentimeter langen, spitzen, einschneidigen Klinge ohne irgendwelche Besonderheiten – es könnte ein herkömmliches größeres Taschenmesser gewesen sein oder auch ein scharfes Küchenmesser. Die Klinge drang in mittlerer Schlüsselbeinlinie auf Höhe der achten Rippe in einem Aufwärtswinkel ein und verletzte die Lunge, was zu einem Spannungspneumothorax führte. Möglichst einfach formuliert« – er warf O'Kelly einen vielsagenden Seitenblick zu –, »schuf die Klinge ein Klappenventil in der Lunge. Jedes Mal, wenn sie einatmete, entwich Luft aus der Lunge in die Pleurahöhle. Wenn sie ausatmete, schloss sich das Ventil, und die Luft blieb eingeschlossen. Durch sofortige ärztliche Hilfe hätte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet werden können. So jedoch gelangte immer mehr Luft in den Brustraum, was die anderen Organe zusammenpresste. Irgendwann war das Herz nicht mehr imstande, sich mit Blut zu füllen, und sie starb.«
Ganz kurz trat Stille ein, nur das leise Summen der Neonröhren war zu hören. Ich stellte mir die Frau in diesem kalten zerfallenen Haus vor, über ihr das Klagen der Nachtvögel und um sie herum sanfter Regen, wie sie am Atmen starb.
»Wie lang hat das gedauert?«, fragte Frank.
»Der Verlauf wird von einer Reihe von Faktoren bestimmt worden sein«, sagte
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