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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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ohne dass ich ihn gesehen hätte, und ich hatte ohnehin nichts Verdächtiges getan, aber dennoch, sein Anblick machte mich nervös. Die Art, wie er dasaß, mit erhobenem Kopf und abrufbereit am Rand der großen Grasfläche: Er wartete auf mich.
    Ich blieb unter dem Weißdornbaum am Tor stehen und beobachtete ihn. Irgendetwas, das bei mir im Hinterkopf erste Konturen angenommen hatte, war jetzt klar zu erkennen. Seine Bemerkung, ich sei melodramatisch, war der Auslöser gewesen: der abfällige Unterton in seiner Stimme, das gereizte Augenverdrehen. Wenn ich recht darüber nachdachte, hatte Rafe seit meiner Ankunft kaum ein Wort zu mir gesagt, außer »Reich mir mal die Sauce« oder »Gute Nacht«. Er sprach um mich herum, über mich hinweg, in meine allgemeine Richtung, niemals mit mir. Am Tag zuvor hatte er mich als Einziger nicht zur Begrüßung berührt, bloß meinen Koffer genommen und ins Haus getragen. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, ließ es nicht offen durchblicken, aber aus irgendeinem Grund war Rafe stinksauer auf mich.
    Er sah mich, sobald ich unter dem Weißdorn hervortrat. Er hob den Arm – das Licht von den Fenstern ließ lange, verwirrende Schatten über das Gras auf mich zufliegen – und schaute bewegungslos zu, wie ich den Rasen überquerte und mich neben ihn setzte.
    Es erschien mir am einfachsten, die Sache direkt anzusprechen. »Bist du sauer auf mich?«, fragte ich.
    Rafe wandte den Kopf mit einem angewiderten Ruck ab und blickte über das Gras. »›Sauer auf mich‹«, sagte er. »Du meine Güte, Lexie, du bist doch kein Teenager.«
    »Na schön«, sagte ich. »Bist du wütend auf mich?«
    Er streckte die Beine vor sich aus und inspizierte die Spitzen seiner Sportschuhe. »Bist du überhaupt mal auf die Idee gekommen«, sagte er, »dich zu fragen, wie die letzte Woche für uns war?«
    Ich dachte einen Moment darüber nach. Es hörte sich ganz so an, als würde er es Lexie übelnehmen, dass sie sich hatte niederstechen lassen. Soweit ich das beurteilen konnte, war das entweder höchst verdächtig oder höchst befremdlich. Bei diesen vier war der Unterschied schwer zu erkennen. »Ich hab mich auch nicht gerade amüsiert, weißt du«, sagte ich.
    Er lachte. »Du hast nicht mal drüber nachgedacht, stimmt’s?«
    Ich starrte ihn an. »Bist du deshalb stinkig? Weil ich verletzt wurde? Oder weil ich nicht gefragt habe, wie das für euch war?« Er warf mir einen Seitenblick zu, der alles hätte bedeuten können. »Menschenskind, Rafe. Ich war auch nicht scharf drauf, dass das passiert. Wieso benimmst du dich deshalb so bescheuert?«
    Rafe nahm einen langen fahrigen Schluck von seinem Drink – Gin-Tonic, ich konnte es riechen. »Vergiss es«, sagte er. »Schon gut. Geh einfach rein.«
    »Rafe«, sagte ich verletzt, und das war nicht komplett gespielt: Der eisige Unterton in seiner Stimme hatte mich zusammenzucken lassen. »Bitte nicht.«
    Er reagierte nicht. Ich legte eine Hand auf seinen Arm – er war muskulöser, als ich erwartet hatte, und fühlte sich durch sein Hemd hindurch warm an, fast fiebrig. Sein Mund bildete eine lange, harte Linie, aber Rafe rührte sich nicht.
    »Erzähl mir, wie es für euch war«, sagte ich. »Bitte. Ich will es wissen, ehrlich. Ich hab mich bloß nicht getraut zu fragen.«
    Rafe zog seinen Arm weg. »Na schön«, sagte er. »Wie du willst. Es war der Horror schlechthin. Beantwortet das deine Frage?«
    Ich wartete.
    »Wir waren alle hysterisch«, sagte er unwirsch, nach einem Moment. »Wir waren Wracks. Nicht Daniel, klar, wegen so was die Fassung zu verlieren wäre ihm zu würdelos, er hat bloß die Nase in ein Buch gesteckt und ab und an ein blödes altnordisches Zitat zum Besten gegeben, irgendwas von starken Armen in schweren Zeiten oder so. Aber ich bin ziemlich sicher, dass er die ganze Woche kein Auge zugetan hat. Egal, wann ich nachts aufgestanden bin, bei ihm brannte immer Licht. Und wir Übrigen … Nur damit du’s weißt, wir haben praktisch auch kein Auge zugetan. Wir hatten alle Alpträume – das Ganze war die reinste Farce, jedes Mal, wenn man es geschafft hatte einzuschlafen, ist irgendeiner schreiend aufgewacht und hat natürlich alle anderen geweckt … Unser Zeitgefühl war völlig durcheinander. Die halbe Zeit wusste ich nicht mal, welcher Tag war. Ich konnte nichts essen, wenn ich Essen auch nur gerochen hab, musste ich schon würgen. Und Abby hat ohne Ende gebacken – sie hat gesagt, sie muss sich irgendwie abreagieren, aber es war

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