Totengleich
ich ihm zuerst nicht geglaubt.«
»Das war’s, was Daniel gedacht hat, nicht?«, sagte ich. Mir war nicht klar, wieso ich das wusste, aber ich hatte nicht den geringsten Zweifel. »Er hat gedacht, ich wäre tot.«
Nach einem Moment seufzte Rafe. »Ja«, sagte er. »Ja, genau. Gleich von Anfang an. Er hat gedacht, du hättest es nicht mal bis ins Krankenhaus geschafft.«
Bei dem musst du aufpassen , hatte Frank gesagt. Entweder war Daniel erheblich cleverer, als mir lieb war – der kleine Wortwechsel vor meinem Spaziergang bereitete mir erneut Kopfzerbrechen –, oder er hatte eigene Gründe dafür gehabt zu glauben, dass Lexie nicht wiederkommen würde. »Wieso?«, fragte ich und tat gekränkt. »Ich bin doch kein Weichei. So ein kleiner Ritzer genügt nicht, um mich loszuwerden.«
Ich spürte, wie Rafe zusammenfuhr, ein winziges, halb verstecktes Zucken. »Was weiß ich«, sagte er. »Er hatte so eine abenteuerliche, verschwurbelte Theorie, die Bullen würden nur behaupten, du wärst noch am Leben, um alle zu verwirren – ich kann mich im Einzelnen nicht erinnern, ich wollte das nicht hören, und er war sowieso ziemlich kryptisch.« Er zuckte die Achseln. »Daniel eben.«
Aus mehreren Gründen fand ich, dass es Zeit war, den Ton dieser Unterhaltung zu ändern. »Hmm ... Verschwörungstheorien«, sagte ich. »Wir sollten ihm einen Hut aus Silberfolie basteln, für den Fall, dass die Bullen versuchen, seine Gehirnwellen zu stören.«
Ich hatte Rafe überrumpelt: Unwillkürlich stieß er ein verblüfft prustendes Lachen aus. »Er ist wirklich leicht paranoid, nicht?«, sagte er. »Weißt du noch, wie wir die Gasmaske gefunden haben? Wie er sie nachdenklich angeguckt und gesagt hat: ›Ob die wohl auch gegen die Vogelgrippe schützt?‹«
Ich hatte auch angefangen zu lachen. »Die würde super zu dem Silberfolienhut passen. Er kann beides zusammen aufsetzen, wenn er zur Uni fährt –«
»Wir besorgen ihm einen Bio-Schutzanzug –«
»Abby kann hübsche Muster draufsticken –«
Eigentlich war es gar nicht so umwerfend lustig, aber wir kriegten uns nicht mehr ein, lachten wie zwei alberne Teenager. »Oh Mann«, sagte Rafe und wischte sich über die Augen. »Weißt du, die ganze Sache wäre wahrscheinlich zum Brüllen komisch gewesen, wenn sie nicht so schrecklich gewesen wäre. Ich kam mir vor wie in einem von diesen furchtbaren Stücken, die unsere Möchtegern-Ionescos in den Tutorenkursen so gern schreiben: haufenweise Fleischpasteten, die aus dem Nichts auftauchen, Justin, der sie überall fallen lässt, ich irgendwo würgend in der Ecke, Abby schlafend im Pyjama in der Badewanne wie eine postmoderne Ophelia, Daniel, der auftritt, um uns zu sagen, was Chaucer über uns alle denkt, und dann wieder verschwindet, dein Freund Officer Krupke, der alle zehn Minuten vor der Tür steht und wissen will, welche Farbe du bei M&Ms am liebsten magst … «
Er ließ einen langen zittrigen Atemzug entweichen, irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen. Ohne mich anzusehen, streckte er einen Arm zu mir aus und wuschelte mir durchs Haar. »Wir haben dich vermisst, du Dussel«, sagte er fast grob. »Wir wollen dich nicht verlieren.«
»Na, hier bin ich«, sagte ich. »Und ich geh nirgendwohin.«
Ich sagte es in heiterem Tonfall, doch in dem großen dunklen Garten war es, als würden die Worte ein Eigenleben entwickeln, über die Wiese davonflattern und zwischen den Bäumen verschwinden. Rafes Gesicht wandte sich mir langsam zu. Das Licht vom Wohnzimmer war hinter ihm, und ich konnte seinen Ausdruck nicht sehen, nur ein blassweißes Mondglitzern in seinen Augen.
»Nein?«, fragte er.
»Nein«, sagte ich. »Es gefällt mir hier.«
Rafes Silhouette bewegte sich kurz, als er nickte. »Gut«, sagte er.
Völlig überraschend für mich hob er die Hand und strich mir mit der Rückseite der Finger sanft und bedächtig über die Wange. Das Mondlicht ließ den Hauch eines Lächelns erkennen.
Eines der Wohnzimmerfenster wurde hochgerissen, und Justins Kopf tauchte auf. »Worüber lacht ihr zwei denn da?«
Rafes Hand fiel herab. »Nichts«, riefen wir, wie aus einem Munde.
»Wenn ihr noch länger da draußen in der Kälte hockt, kriegt ihr beide noch Ohrenschmerzen. Kommt rein und seht euch an, was wir hier haben.«
Sie hatten irgendwo ein altes Fotoalbum gefunden: die Familie March, Daniels Vorfahren, angefangen um 1860 herum, mit Schnürkorsetts und Zylindern und bierernsten Mienen. Ich quetschte mich neben Daniel aufs Sofa
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