Totengleich
fauchte ich, warf die Hände hoch und bedachte alle vier mit einem wütenden Blick. »Ich geh spazieren . Ich mach das andauernd. Ich ziehe keine Schutzweste an, ich nehme keine Leuchtpistole mit und ganz bestimmt keinen Bodyguard. Könnt ihr alle damit leben?« Der Gedanke, unter vier Augen mit Rafe oder Daniel zu sprechen, war interessant, aber dazu würde es irgendwann später auch noch Gelegenheit geben. Falls jemand irgendwo da draußen auf den Wegen auf mich wartete, wollte ich ihn ganz bestimmt nicht verscheuchen.
»So kenn ich dich«, sagte Justin und lächelte mich zaghaft an. »Du kommst wirklich klar, nicht?«
»Dann nimm aber wenigstens«, sagte Daniel beharrlich, »eine andere Strecke als die, die du neulich Abend gegangen bist. Machst du das?«
Er sah mich milde an, den Finger noch immer zwischen den Buchseiten. In seinem Gesicht lag nichts außer leichter Sorge. »Würde ich ja gern«, erwiderte ich, »wenn ich noch wüsste, welche das war. Aber da ich keine Ahnung habe, muss ich es wohl drauf ankommen lassen, was?«
»Ah«, sagte Daniel. »Natürlich. Tut mir leid. Ruf an, wenn einer von uns kommen soll.« Er widmete sich wieder seinem Buch. Rafe ließ sich auf den Klavierhocker plumpsen und begann furios mit dem Rondo alla turca.
Es war eine helle Nacht, und der Mond hoch an einem klaren, kalten Himmel riss weiße Schnipsel aus den dunklen Weißdornblättern. Ich knöpfte Lexies Wildlederjacke bis zum Hals zu. Der Taschenlampenstrahl erhellte das schmale Band eines Trampelpfades, und die unsichtbaren Felder um mich herum kamen mir auf einmal riesig vor. Mit der Lampe fühlte ich mich angreifbar und nicht sehr clever, aber ich ließ sie an. Falls mir jemand auflauerte, musste er wissen, wo ich zu finden war.
Niemand kam. Irgendetwas bewegte sich seitlich von mir, irgendetwas Schweres, aber als ich die Taschenlampe herumriss, war es eine Kuh, die mich mit großen, bekümmerten Augen anglotzte. Ich ging weiter, schön langsam wie ein prima Ziel, und dachte über den Wortwechsel vorhin im Wohnzimmer nach. Ich fragte mich, was Frank wohl davon hielt. Vielleicht hatte Daniel nur versucht, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, vielleicht hatte er aber auch äußerst gute Gründe, überprüfen zu wollen, ob meine Amnesie echt war, und ich hatte keine Ahnung, was von beidem zutraf.
Ich merkte erst, dass ich auf das verfallene Cottage zusteuerte, als es vor mir aufragte, ein tieferes Dunkel vor dem Himmel, Sterne, die wie Altarlichter in den Fensterhöhlen flackerten. Ich knipste die Taschenlampe aus: Ich würde auch ohne sie über das Feld finden, und ein Licht im Cottage würde die Nachbarn wahrscheinlich sehr nervös machen, womöglich so nervös, dass sie ihm auf den Grund gehen wollten. Das lange Gras strich mir mit einem leisen, gleichmäßigen Geräusch um die Knöchel. Ich hob die Hand und berührte den steinernen Türsturz wie zum Gruß, ehe ich eintrat.
Die Stille im Innern hatte eine andere Qualität: tiefer und so dicht, dass ich sie sanft auf mich eindrängen spürte. Ein dünner Strahl Mondlicht fiel auf den schiefen Stein der Kochstelle im hinteren Raum.
Von der Ecke aus, wo Lexie zusammengekauert gestorben war, verlief eine schartige Mauer schräg nach unten, und ich hievte mich auf sie drauf und lehnte den Rücken gegen das Giebelende. Eigentlich hätte ich es hier mit der Angst bekommen müssen – ich war ihrem Sterben so nah, ich hätte mich über zehn Tage hinweg nach unten beugen und ihr Haar berühren können –, aber dem war nicht so. Das Cottage hatte anderthalb Jahrhunderte seiner eigenen Stille gespeichert, Lexie hatte nur einen winzigen Augenblick in Anspruch genommen. Die Stille hatte sie bereits aufgesaugt und sich über der Stelle geschlossen, wo sie gewesen war.
Ich dachte anders über sie nach, in jener Nacht. Davor war sie ein Eindringling gewesen oder eine Herausforderung, stets etwas, was meinen Rücken erstarren ließ und mein Adrenalin in Wallung brachte. Aber ich war es gewesen, die urplötzlich in ihr Leben eingedrungen war, aus heiterem Himmel, mit Vicky der Klette als Spielball und einer verrückten Warumeigentlich-nicht-Chance an den ausgestreckten Fingerspitzen. Ich war die Herausforderung, die sie angenommen hatte, Jahre bevor die Kehrseite der Medaille vor meinen Füßen gelandet war. Der Mond kreiste langsam über den Himmel, und ich stellte mir mein Gesicht blaugrau und leer auf Stahl in der Leichenhalle vor, das lange Gleiten und Scheppern
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