Totengleich
und blickte hinaus in den Garten, die Augen halb zusammengekniffen. »Wenn du nicht durchgekommen wärst«, sagte er, »ich glaub, wir wären uns gegenseitig an die Gurgel gegangen.«
Ich streckte einen Finger aus und berührte seinen Handrücken, nur ganz kurz. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Wirklich, Rafe. Ich weiß nicht, wie ich es sonst sagen soll. Es tut mir so leid.«
»Klar«, sagte Rafe, aber die Wut war aus seiner Stimme gewichen, und er klang einfach nur unglaublich müde. »Tja.«
»Was hat Daniel gedacht?«, fragte ich, nach einem Moment.
»Frag mich nicht«, sagte Rafe. Er kippte fast seinen ganzen Drink mit einer gekonnten Drehung des Handgelenks in sich hinein. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir in den meisten Fällen besser dran sind, wenn wir es nicht wissen.«
»Nein, du hast gesagt, Daniel hat zu Justin gesagt, er soll sich zusammenreißen, dass er aber keine große Hilfe war, weil er irgendwas gedacht hat. Was hat er gedacht?«
Rafe schüttelte sein Glas und sah zu, wie die Eiswürfel klimpernd gegen die Seiten schlugen. Er hatte offenbar nicht vor zu antworten, aber Schweigen ist der älteste Vernehmungstrick, der im Buche steht, und ich bin darin noch besser als die meisten. Ich stützte das Kinn auf die Arme, beobachtete ihn und wartete. Im Wohnzimmerfenster hinter seinem Kopf zeigte Abby auf irgendetwas in dem Buch, und sie und Daniel lachten auf, schwach und klar durch die Scheibe.
»Irgendwann«, sagte Rafe endlich. Er blickte mich noch immer nicht an. Das Mondlicht versilberte sein Profil und umschmeichelte seine Wangenknochen, verwandelte ihn in etwas wie von einer alten Münze. »Zwei Tage danach … Es könnte Samstag gewesen sein, ich weiß nicht mehr genau. Ich bin nach draußen auf die Terrasse und hab mich auf die Schaukel gesetzt und dem Regen zugehört. Ich hab gedacht, ich könnte danach besser einschlafen, aus irgendeinem Grund, aber es hat nicht geklappt. Ich hab gehört, wie eine Eule etwas getötet hat – eine Maus vermutlich. Es war schrecklich; die Maus hat geschrien. Man konnte die Sekunde hören, als sie starb.«
Er verstummte. Ich fragte mich, ob das vielleicht das Ende der Geschichte war. »Eulen müssen auch was essen«, sagte ich schließlich.
Rafe warf mir einen raschen Seitenblick zu. »Dann«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie spät es war, es wurde schon hell, hab ich deine Stimme gehört, durch den Regen. Sie klang, als wärst du gleich da oben, würdest dich rauslehnen.«
Er drehte sich um und zeigte auf mein dunkles Fenster über uns. »Du hast gesagt: ›Rafe, ich bin auf dem Weg nach Hause. Warte auf mich.‹ Es klang nicht gruselig oder so, bloß sachlich, irgendwie gehetzt. Wie als du mich mal angerufen hast, weil du deine Schlüssel vergessen hattest. Erinnerst du dich?«
»Ja, sagte ich. »Ich erinnere mich.« Ein leichter, kühler Windhauch strich mir übers Haar, und ich fröstelte, ein rasches, unkontrollierbares Zucken. Eigentlich glaube ich nicht an Gespenster, aber diese Geschichte war etwas anderes, drückte wie eine kalte Messerklinge gegen meine Haut. Es war viel zu spät, über eine Woche zu spät, um mir darüber Gedanken zu machen, welches Unheil ich diesen vieren zufügte.
»›Ich bin auf dem Weg nach Hause‹«, sagte Rafe. »›Warte auf mich.‹« Er blickte auf den Boden seines Glases. Ich merkte, dass er vermutlich ganz schön betrunken war.
»Was hast du gemacht?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Echo, ich richte nicht das Wort an dich«, deklamierte er mit einem schwachen, schiefen Lächeln, »denn du bist ein leblos Ding.«
Der Windhauch war den Garten hinuntergeglitten, durchstreifte das Laub und befingerte vorsichtig den Efeu. Im Mondlicht sah das Gras weich und weiß aus wie Nebel, als könntest du glatt hindurchgreifen. Wieder durchlief mich das Frösteln.
»Warum?«, fragte ich. »Hat dir das nicht gesagt, dass ich durchkommen würde?«
»Nein«, sagte Rafe. »Weiß Gott nicht, nein. Ich war sicher, dass du gerade gestorben warst, genau in der Sekunde. Lach von mir aus drüber, aber ich hab dir ja erzählt, in was für einer Verfassung wir alle waren. Den ganzen nächsten Tag hab ich damit gerechnet, dass Mackey vor der Tür steht, ernst und mitfühlend, und uns mitteilt, dass die Ärzte alles in ihrer Macht Stehende getan hätten, aber leider bla, bla, bla. Als er dann am Montag mit einem breiten Grinsen im Gesicht erschienen ist und uns erzählt hat, du wärst wieder bei Bewusstsein, hab
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