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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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der Schublade, die sie im Dunkeln einschloss, allein. Ich stellte mir vor, wie sie genau auf diesem Stück Mauer gesessen hatte, in anderen, verlorenen Nächten, und ich fühlte mich so warm und robust, festes bewegliches Fleisch, das ihren schwachen silbrigen Abdruck überlagerte, dass es mir fast das Herz brach. Ich wollte ihr Dinge erzählen, die sie hätte wissen sollen, wie ihre Tutorengruppe mit Beowulf klarkam und was die Jungs zum Abendessen gekocht hatten, wie der Himmel heute Nacht aussah. Dinge, die ich für sie aufbewahrte.
    In den ersten Monaten nach dem Knocknaree-Fall hatte ich viel daran gedacht wegzugehen. Es erschien mir paradoxerweise als die einzige Möglichkeit, mich je wieder wie ich selbst fühlen zu können: meinen Pass und ein paar Klamotten einpacken, einen Zettel schreiben (»An alle, ich bin weg. Liebe Grüße, Cassie«) und den nächsten Flug egal wohin nehmen, alles zurücklassen, was mich in jemanden verändert hatte, den ich nicht wiedererkannte. Irgendwo da drin, in welchem Augenblick genau konnte ich nicht sagen, war mir mein Leben aus den Händen geglitten und in tausend Stücke zerschellt. Alles, was ich hatte – meine Arbeit, meine Freunde, meine Wohnung, meine Klamotten, mein Spiegelbild –, schien irgendwie einer anderen zu gehören, irgendeiner klarsichtigen jungen Frau mit Rückgrat, die ich nicht wiederfinden konnte. Ich war ein kaputtes Wrack, beschmiert mit dunklen Fingerabdrücken und gespickt mit Alptraumscherben, und ich hatte dort nichts mehr zu suchen. Ich bewegte mich durch mein verlorenes Leben wie ein Geist, stets bemüht, nichts mit meinen blutenden Händen anzufassen, und träumte davon, Segeln zu lernen, irgendwo, wo es warm ist, Bermuda oder Sydney, und den Menschen süße sanfte Lügen über meine Vergangenheit aufzutischen.
    Ich weiß nicht, warum ich blieb. Sam hätte es vermutlich mit Mut erklärt – er versucht immer, alles möglichst positiv zu sehen –, und Rob hätte von purer Sturheit gesprochen, aber ich bilde mir nicht ein, dass es eins von beidem war. Du kannst für dein Verhalten keine Anerkennung verlangen, wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst. Es ist Instinkt, mehr nicht, auf das zurückzugreifen, womit du dich am besten auskennst. Ich glaube, ich bin geblieben, weil weglaufen mir einfach zu fremd und zu kompliziert erschien. Ich konnte nur eines, nämlich auf Bekanntes zurückgreifen, mir festen Boden suchen und dann in Kampfstellung gehen, um von vorn anzufangen.
    Lexie war weggelaufen. Als sich ihr das Exil aus heiterem Himmel als rettende Lösung anbot, kämpfte sie nicht dagegen an wie ich: Sie griff mit beiden Händen zu, nahm es ganz in sich auf und machte es sich zu eigen. Sie hatte den Verstand und den Mut gehabt, ihr kaputtes altes Ich loszulassen und ganz einfach wegzugehen, von vorn anzufangen, einen Neuanfang zu machen, so frisch und sauber wie der Morgen.
    Und dann, nach all dem, war jemand auf sie zumarschiert und hatte ihr dieses hart erkämpfte neue Leben entrissen, so beiläufig, als würde er ein Gänseblümchen pflücken. Plötzlich durchfuhr mich ein jäher Zorn – nicht auf sie, sondern zum ersten Mal ihretwegen.
    »Was immer du auch willst«, sagte ich leise in das dunkle Cottage hinein, »ich bin hier. Du hast mich.«
    Die Luft um mich herum veränderte sich fast unmerklich, leichter als ein Atemhauch. Geheimnisvoll. Erfreut.

    Es war dunkel, große Wolkenbänke verdeckten den Mond, aber ich kannte den Feldweg inzwischen so gut, dass ich die Taschenlampe kaum brauchte, und meine Hand fand ohne langes Herumtasten gleich den Riegel des hinteren Tors. Im Undercover-Einsatz arbeitet die Zeit anders. Ich hatte Mühe, mir in Erinnerung zu rufen, dass ich erst anderthalb Tage hier wohnte.
    Das Haus war schwarz vor Schwarz, nur eine schwache gekrümmte Linie Sterne, wo das Dach aufhörte und der Himmel begann. Es kam mir größer und ungreifbar vor, an den Rändern verschwommen, bereit, sich in nichts aufzulösen, wenn man zu nahe kam. Die erhellten Fenster wirkten zu warm und golden, um real zu sein, winzige Bilder, lockend wie eine alte Guckkastenschau: glänzende Kupferpfannen, die in der Küche hingen, Daniel und Abby Seite an Seite auf dem Sofa, die Köpfe über irgendein riesiges altes Buch gebeugt.
    Dann glitt eine Wolke vom Mond weg, und ich sah Rafe am Rand der Terrasse sitzen, einen Arm um die Knie und in der anderen Hand ein langes Glas. Mein Adrenalinspiegel schnellte hoch. Er konnte mir unmöglich gefolgt sein,

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