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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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den Vordergrund rückte, desto eher würde irgendwer auf den Gedanken kommen, Meine Güte, Lexie ist ja ein total anderer Mensch geworden .
    Wir saßen im Wohnzimmer, nach dem Essen. Daniel und Justin und ich lasen, Rafe spielte Klavier, eine getragene Mozart-Fantasie. Manchmal brach er ab, um eine Phrase, die er mochte oder beim ersten Mal nicht hingekriegt hatte, zu wiederholen. Abby verzierte einen neuen Petticoat für ihre Puppe mit alter Lochstickerei, den Kopf gebeugt, die Stiche so winzig, dass sie fast unsichtbar waren. Ich fand die Puppe eigentlich gar nicht gruselig – endlich mal eine, die nicht aussah wie eine aufgedunsene, entstellte Erwachsene. Sie hatte einen langen dunklen Zopf und ein wehmütiges, verträumtes Gesicht mit einer Stupsnase und ruhigen, braunen Augen. Aber ich konnte gut nachvollziehen, was die Jungs meinten. Diese großen, traurigen Augen, die mich von einer würdelosen Position auf Abbys Schoß aus anstarrten, lösten diffuse Schuldgefühle in mir aus, und ihre frische, federnde Lockenpracht hatte etwas Verstörendes.
    Gegen elf ging ich in die Diele zum Garderobenschrank, um meine Sportschuhe zu holen – ich hatte mich schon vor dem Essen in meinen supersexy Hüfthalter gequetscht und mein Handy darin verstaut, damit ich nicht von der Gewohnheit abweichen und nach oben in mein Zimmer musste. Frank wäre stolz auf mich. Ich verzog das Gesicht und stieß ein leises »Aua« aus, als ich mich auf den Kaminvorleger setzte, und Justins Kopf schnellte hoch. »Alles in Ordnung? Brauchst du deine Schmerztabletten?«
    »Nee«, sagte ich, während ich meinen Schnürsenkel auseinanderfummelte. »Ich hab mich bloß blöd hingesetzt.«
    »Spaziergang?«, fragte Abby und blickte von der Puppe hoch.
    »Genau«, sagte ich und zog einen Schuh an. Die Form von Lexies Fuß, einen Tick schmaler als meiner, war in die Innensohle eingedrückt.
    Wieder machte sich diese winzige Spannung im Raum breit, wie angehaltener Atem. Rafes Hände ließen einen Akkord in der Luft hängen. »Ist das klug?«, fragte Daniel und schob einen Finger in sein Buch, um die Seite nicht zu verschlagen.
    »Mir geht’s gut«, sagte ich. »Die Naht tut nur noch weh, wenn ich mich zur Seite drehe. Die verkraftet einen Spaziergang.«
    »Das hab ich nicht gemeint«, sagte Daniel. »Hast du keine Angst?«
    Sie starrten mich alle an, ein nicht zu deutender, vierfacher Blick mit der Kraft eines Traktorstrahls. Ich zuckte die Achseln, zog an einem Schnürsenkel. »Nein.«
    »Warum nicht? Wenn ich fragen darf.«
    Rafe bewegte sich, spielte einen schnellen Triller in den oberen Oktaven des Klaviers. Justin zuckte zusammen.
    »Darum«, sagte ich. »Ich hab einfach keine.«
    »Solltest du nicht besser Angst haben? Wenn du doch nicht mehr weißt –«
    »Daniel«, sagte Rafe fast im Flüsterton. »Lass sie in Frieden.«
    »Mir wäre es lieber, du würdest nicht da rausgehen«, sagte Justin. Er sah aus, als hätte er Bauchschmerzen. »Im Ernst.«
    »Wir machen uns Sorgen, Lex«, sagte Abby leise. »Auch wenn du dir keine machst.«
    Der Triller hielt noch an, wie eine Alarmglocke. »Rafe«, sagte Justin und drückte sich eine Hand aufs Ohr. »Hör auf.«
    Rafe achtete nicht auf ihn. »Sie ist auch so schon melodramatisch genug, ohne dass ihr drei sie darin unterstützt –«
    Daniel schien gar nicht hinzuhören. »Findest du das nicht verständlich?«, fragte er.
    »Dann müsst ihr euch wohl einfach Sorgen machen«, sagte ich und schob den anderen Fuß in den zweiten Schuh. »Ist mir egal. Wenn ich jetzt nervös werde, dann werd ich es immer sein, und darauf hab ich keinen Bock.«
    »Na dann, gratuliere«, sagte Rafe und beendete den Triller mit einem sauberen Akkord. »Nimm deine Taschenlampe mit. Bis später.« Er wandte sich wieder dem Klavier zu und fing an, Seiten umzublättern.
    »Und dein Handy«, sagte Justin. »Falls du dich plötzlich schwach fühlst oder … « Seine Stimme verlor sich.
    »Der Regen hat anscheinend aufgehört«, sagte Daniel mit einem Blick zum Fenster, »könnte aber noch kalt sein. Willst du die Jacke anziehen?«
    Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Dieser Spaziergang erreichte planungstechnisch allmählich das Niveau von Operation Desert Storm. »Ich komm schon klar«, sagte ich.
    »Hmmm«, sagte Daniel, während er mich betrachtete. »Vielleicht sollte ich mitkommen.«
    »Nein«, sagte Rafe unvermittelt. »Ich geh mit. Du arbeitest.« Er knallte den Klavierdeckel zu und stand auf.
    »Verdammt nochmal!«,

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