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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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– eng, mit Körperkontakt, und eine Sekunde lang wäre ich fast zurückgezuckt, bis mir einfiel, dass ich Mikro und Handy auf der anderen Seite hatte. Rafe setzte sich neben mich auf die Armlehne, und Justin verschwand in der Küche und kam mit hohen Gläsern heißem Portwein zurück, fest mit dicken weichen Servietten umwickelt, damit wir uns nicht die Hände verbrannten. »Damit du dir nicht den Tod holst«, sagte er zu mir. »Du musst auf dich aufpassen. So in der Kälte rumzulaufen … «
    »Seht euch die Klamotten an«, sagte Abby. Das Album hatte einen rissigen braunen Ledereinband und war so groß, dass es ihren und Daniels Schoß zusammen bedeckte. Die Fotos steckten in kleinen Papierecken, waren fleckig und an den Rändern braun verfärbt. »Ich will den Hut da haben. Ich glaube, ich bin verliebt in den Hut.«
    Es war ein turmartiges Gebilde mit Fransen und krönte eine beleibte Lady mit Monobusen und einem fischartigen Starrblick. »Ist das nicht der Lampenschirm im Esszimmer?«, sagte ich. »Ich montier ihn für dich ab, wenn du versprichst, ihn morgen zur Uni aufzusetzen.«
    »Großer Gott«, sagte Justin, der sich auf die andere Armlehne des Sofas gehockt hatte und über Abbys Schulter spähte, »die sehen ja alle total deprimiert aus, nicht? Du hast mit keinem von denen die geringste Ähnlichkeit, Daniel.«
    »Lasst uns dankbar sein für kleine Gaben«, sagte Rafe. Er pustete auf seinen heißen Portwein, den freien Arm quer über meinen Rücken gelegt. Er hatte mir anscheinend verziehen, was immer ich, genauer gesagt Lexie, getan hatte. »Ich hab noch nie so viele Glupschaugen auf einmal gesehen. Vielleicht hatten sie’s alle an der Schilddrüse und sehen deshalb so deprimiert aus.«
    »Tatsächlich«, sagte Daniel, »sind hervorquellende Augen und finstere Mienen ein typisches Merkmal für Fotografien aus der Zeit. Ich frage mich, ob das mit den langen Belichtungszeiten zusammenhing. Die viktorianische Kamera –« Rafe simulierte einen Schlafanfall an meiner Schulter, Justin gähnte ausgiebig, und Abby und ich – ich nur eine Sekunde später als sie – hielten uns die Ohren zu und fingen an zu singen.
    »Schon gut, schon gut«, sagte Daniel und schmunzelte. Ich war ihm noch nie so nah gewesen. Er roch gut, Zedernholz und saubere Wolle. »Ich nehme ja nur meine Ahnen in Schutz. Jedenfalls, ich finde wohl, dass ich mit einem von ihnen Ähnlichkeit habe – wo ist er? Der da.«
    Der Kleidung nach war das Foto etwa vor hundert Jahren aufgenommen worden. Der Mann war jünger als Daniel, höchstens zwanzig, und stand auf den Eingangsstufen eines jüngeren, leuchtenderen Whitethorn House – kein Efeu an den Mauern, glänzende neue Farbe an der Tür und den Geländern, die Steinstufen scharfkantiger und hell geschrubbt. Eine Ähnlichkeit war durchaus vorhanden – er hatte Daniels markante Kinnpartie und breite Stirn, obwohl seine noch breiter wirkte, da das dunkle Haar mit Pomade glatt nach hinten gekämmt war, und den gleichen gerade geschnittenen Mund. Doch die träge, provozierende Lässigkeit, mit der der junge Mann an dem Geländer lehnte, war kein Vergleich zu Daniels akkurater symmetrischer Haltung, und in seinen weit auseinanderstehenden Augen lag ein anderer Ausdruck, etwas Ruheloses und Gehetztes.
    »Wow«, sagte ich. Die Ähnlichkeit, das Gesicht, das ein Jahrhundert überbrückte, löste etwas Eigenartiges in mir aus. Ich hätte Daniel beneidet, auf eine irrationale Art, wenn Lexie nicht gewesen wäre. »Du siehst wirklich so aus wie er.«
    »Nur nicht ganz so verkorkst«, sagte Abby. »Das ist kein glücklicher Mann.«
    »Aber seht euch das Haus an«, sagte Justin leise. »Ist es nicht wunderschön?«
    »Oh ja«, sagte Daniel und betrachtete es lächelnd. »Das ist es wirklich. Wir kriegen es wieder so hin.«
    Abby schob einen Fingernagel unter das Foto, schnippte es aus den Ecken und drehte es um. Auf der Rückseite stand mit wässriger Tinte »William, Mai 1914«.
    »Das war kurz vor dem Ersten Weltkrieg«, sagte ich ruhig. »Vielleicht ist er gefallen.«
    »Nein«, sagte Daniel, nahm Abby das Foto aus der Hand und betrachtete es genauer, »das glaub ich nicht. Donnerwetter. Wenn das derselbe William ist – und es kann gut sein, dass er es nicht ist, was Namen anging, war meine Familie schon immer unglaublich einfallslos –, dann hab ich was über ihn gehört. Mein Vater und meine Tanten haben ihn ab und an erwähnt, als ich klein war. Er ist der Onkel meines Großvaters, glaub ich,

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