Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
obwohl ich mich da vielleicht vertue. William war – na ja, nicht gerade das schwarze Schaf der Familie, eher so was wie die Leiche im Keller.«
    »Eindeutig eine Ähnlichkeit«, sagte Rafe, und dann: »Aua!«, als Abby rübergriff und ihn auf den Arm schlug.
    »Er war tatsächlich im Krieg«, sagte Daniel, »kam aber irgendwie versehrt wieder. Was er genau hatte, wurde nie erwähnt, weshalb ich vermute, dass es nichts Körperliches war, sondern eher ein psychischer Knacks. Es gab irgendeinen Skandal – Genaueres weiß ich nicht, es wurde ein ziemliches Geheimnis aus der Sache gemacht, aber er war eine Zeitlang in irgendeinem Sanatorium, was damals auch eine diskrete Umschreibung für eine Irrenanstalt gewesen sein kann.«
    »Vielleicht hatte er eine leidenschaftliche Affäre mit Wilfried Owen«, schlug Justin vor, »im Schützengraben.« Rafe seufzte geräuschvoll.
    »Ich hatte eher den Eindruck, dass er einen Selbstmordversuch gemacht hat«, sagte Daniel. »Als er entlassen wurde, ist er ausgewandert, glaube ich. Er ist ziemlich alt geworden – als er starb, war ich schon auf der Welt –, aber trotzdem, nicht unbedingt der Vorfahr, mit dem man gern Ähnlichkeit hätte. Du hast recht, Abby: kein glücklicher Mann.« Er steckte das Foto wieder fest und berührte es sanft, mit einer langen kantigen Fingerspitze, ehe er die Seite umblätterte.
    Der heiße Portwein war stark und süß, mit Zitronenvierteln darin, die mit Gewürznelken gespickt waren, und Daniels Arm lag warm und fest an meinem. Er blätterte langsam weiter: Schnurrbärte so groß wie Haustiere, gepflegte Männer, die im blühenden Kräutergarten umherschlenderten (»Großer Gott«, sagte Abby mit einem langen Atemzug, »genauso müsste er aussehen«), junge Frauen mit sorgsam heruntergenommenen Schultern. Ein paar Leute hatten eine ähnliche Statur wie Daniel und William – groß und robust, mit Wangenknochen, die den Männern besser standen als den Frauen –, aber die meisten waren klein und kerzengerade und bestanden überwiegend aus scharfen Winkeln, spitzen Kinnen und Ellenbogen und Nasen. »Das Album ist genial«, sagte ich. »Wo habt ihr das gefunden?«
    Jähes, erschrockenes Schweigen. Oh Gott , dachte ich, oh Gott, nicht jetzt, nicht, wo ich gerade anfing – »Aber du hast es doch gefunden«, sagte Justin und stellte sich sein Glas aufs Knie. »Im Gästezimmer oben. Weißt du das denn … « Er ließ den Satz verklingen. Niemand führte ihn zu Ende.
    Merk dir , hatte Frank mir eingeschärft, mach niemals einen Rückzieher. Wenn dir ein Patzer unterläuft, schieb es auf das Koma, auf PMS, den Vollmond, was du willst, bleib einfach bei dem, was du gesagt hast . »Nein«, sagte ich. »Ich würde mich erinnern, wenn ich es schon mal gesehen hätte.«
    Sie blickten mich alle an. Daniels Augen, nur wenige Zentimeter entfernt, waren konzentriert und neugierig und übergroß hinter seiner Brille. Ich wusste, ich war weiß geworden, das konnte er nicht übersehen. Er hat gedacht, du hättest es nicht mal bis ins Krankenhaus geschafft. Er hatte so eine abenteuerliche, verschwurbelte Theorie – »Hast du aber, Lexie«, sagte Abby behutsam und beugte sich vor, damit sie mich sehen konnte. »Zusammen mit Justin. Ihr habt oben herumgestöbert, nach dem Abendessen, und dabei habt ihr es entdeckt. Das war in derselben Nacht, in der … « Sie machte eine kleine, uneindeutige Geste, warf Daniel einen raschen Blick zu.
    »Es war bloß ein paar Stunden vor dem Vorfall«, sagte Daniel. Ich meinte zu spüren, wie sich irgendetwas durch seinen Körper bewegte, eine Art winziges, unterdrücktes Frösteln, aber sicher war ich mir nicht. Ich war selbst zu sehr damit beschäftigt, mir nicht anmerken zu lassen, wie mich pure Erleichterung durchströmte. »Kein Wunder, dass du dich nicht erinnern kannst.«
    »Tja«, sagte Rafe, eine Spur zu laut und zu kräftig, »da siehst du.«
    »Aber das nervt«, sagte ich. »Jetzt komm ich mir vor wie ein Idiot. Dass ich die schlimmen Sachen nicht mehr weiß, macht mir nichts, aber ich hab keinen Bock darauf, mich ständig zu fragen, was mir noch alles entfallen ist. Wer weiß, vielleicht hab ich sechs Richtige im Lotto getippt und den Schein irgendwo versteckt?«
    »Schsch«, sagte Daniel. Er lächelte mich an, dieses außergewöhnliche Lächeln. »Mach dir nichts draus. Das mit dem Album hatten wir auch alle vergessen, bis heute Abend. Wir hatten nicht mal einen Blick reingeworfen.« Er nahm meine Hand, öffnete sanft meine

Weitere Kostenlose Bücher