Totengleich
Finger – ich hatte nicht gemerkt, dass ich die Hände zu Fäusten geballt hatte – und zog sie durch seine Armbeuge. »Ich bin froh, dass du’s gefunden hast. Dieses Haus ist vollgestopft mit Geschichte. Das sollte nicht verlorengehen. Seht euch das an: die Kirschbäume, frisch gepflanzt.«
»Und guckt euch den an«, sagte Abby und zeigte auf einen Mann, der in voller Jagdmontur neben dem vorderen Tor auf einem geschmeidigen Pferd saß, einem Fuchs. »Der würde vor Entsetzen aus dem Sattel kippen, wenn er wüsste, dass wir in seinem Stall Motorfahrzeuge unterstellen.« Ihre Stimme klang gut – locker, fröhlich, ohne auch nur im Geringsten zu stocken –, doch ihre Augen, die über Daniel hinweg zu mir herüberhuschten, blickten ängstlich.
»Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Daniel, »ist das unser Wohltäter.« Er zog das Foto heraus und sah auf der Rückseite nach. »Ja: ›Simon auf Highwayman, November 1949.‹ Da muss er etwa einundzwanzig gewesen sein.«
Onkel Simon war vom Haupt-Ast des Familienstammbaums: klein und drahtig, mit einer arroganten Nase und einem grimmigen Blick. »Noch so ein unglücklicher Mann«, sagte Daniel. »Seine Frau ist jung gestorben, und anscheinend hat er das nie verwunden. Da hat er mit dem Trinken angefangen. Justin hat recht, keine fröhliche Sippschaft.«
Er war dabei, das Foto wieder in die Ecken zu schieben, als Abby sagte: »Nein«, und es ihm aus der Hand nahm. Sie reichte Daniel ihr Glas, ging zum Kamin und stellte das Bild mitten auf den Sims. »Dahin.«
»Wieso?«, wollte Rafe wissen.
»Weil«, sagte Abby, »wir ihm zu Dank verpflichtet sind. Er hätte das Haus auch dem Reiterverein stiften können, dann würde ich noch immer in einer schauerlichen Kellerwohnung ohne Fenster wohnen und hoffen, dass der Spinner von oben nicht irgendwann auf die Idee kommt, nachts bei mir einzubrechen. Ich finde, der Mann hat einen Ehrenplatz verdient.«
»Ach Abby, Schätzchen«, sagte Justin und streckte einen Arm aus. »Komm her.«
Abby schob einen Kerzenständer davor, damit das Foto nicht umfiel. »So«, sagte sie und ging zu Justin. Er schlang den Arm um sie und zog sie an sich, so dass sie mit dem Rücken an seiner Brust lehnte. Sie nahm ihr Glas aus Daniels Hand. »Auf Onkel Simon«, sagte sie.
Onkel Simon bedachte uns alle mit einem unheilvollen, herablassenden Blick. »Wieso nicht«, sagte Rafe und hob sein Glas. »Onkel Simon.«
Der Portwein, der tief und kräftig wie Blut leuchtete, ich, gemütlich zwischen Daniels und Rafes Armen, ein Windstoß, der die Fenster klappern ließ und die Spinnweben hoch oben in den Ecken ins Schwingen brachte. »Auf Onkel Simon«, sagten wir alle zusammen.
Später, in meinem Zimmer, saß ich auf der Fensterbank und ging in Gedanken durch, was ich inzwischen Neues in Erfahrung gebracht hatte. Alle vier Mitbewohner hatten gezielt verborgen, wie aufgewühlt sie gewesen waren, und zwar gekonnt. Abby warf mit Küchenutensilien, wenn sie richtig wütend wurde. Rafe zumindest verübelte es Lexie irgendwie, dass sie niedergestochen worden war. Justin war sicher gewesen, sie würden verhaftet. Daniel war auf die Koma-Geschichte nicht hereingefallen. Und Rafe hatte Lexie sagen hören, sie würde nach Hause kommen, am Tag bevor ich eingewilligt hatte.
Zu den verstörendsten Aspekten an der Arbeit im Morddezernat zählt, wie wenig du über den Menschen nachdenkst, der ermordet wurde. Manche setzen sich in deinem Kopf fest – Kinder, erschlagene Rentner, junge Mädchen, die hoffnungsfroh und quirlig durch die Clubs zogen und in einem Abflusskanal endeten –, aber meistens ist das Opfer nur dein Ausgangspunkt. Das Gold am Ende des Regenbogens ist der Mörder. Erschreckend leicht gerätst du an den Punkt, wo das Opfer nebensächlich wird, tagelang halb vergessen, bloß eine Requisite, die für den Prolog auf die Bühne gerollt wird, damit die eigentliche Show anfangen kann. Rob und ich hefteten immer ein Foto mitten an die Tafel, bei jedem Fall – kein Foto vom Tatort oder ein gestelltes Porträt; einen Schnappschuss, die am wenigsten gestellte Aufnahme, die wir auftreiben konnten, einen unbeschwerten Ausschnitt aus der Zeit, als dieser Mensch mehr war als ein Mordopfer –, um das nie zu vergessen.
Das geschieht nicht aus Gefühllosigkeit oder Selbstschutz. Es ist nun mal eine nackte Tatsache, dass es in jedem Mordfall, in dem ich ermittelte, um den Mörder ging. Das Opfer – und stellen Sie sich vor, Sie sollen das einer Familie
Weitere Kostenlose Bücher