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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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erklären, der nichts geblieben ist als die Hoffnung auf einen Grund –, das Opfer war lediglich die Person, die zufällig in die Schusslinie spaziert ist, als die Pistole geladen und gespannt wurde. Der Kontrollfreak war darauf geeicht, seine Frau umzubringen, wenn sie sich seinen Befehlen erstmals widersetzte; zufällig war Ihre Tochter die Frau, die ihn geheiratet hat. Der Straßenräuber hatte sich mit einem Messer auf die Lauer gelegt, und Ihr Mann kam zufällig als Erster vorbei. Wir durchstöbern das Leben der Opfer, aber nicht, um mehr über sie zu erfahren, sondern über den Mörder: Wenn wir uns ausrechnen können, an welchem Punkt genau jemand dem Mörder ins Fadenkreuz gelaufen ist, dann können wir mit unserer dunklen, blutigen Geometrie ans Werk gehen und eine Linie ziehen, die schnurstracks zum Lauf der Pistole führt. Das Opfer kann uns sagen, wie, aber fast nie, warum. Der einzige Grund, der Anfang und das Ende, der geschlossene Kreis, ist der Mörder.
    Dieser Fall war vom ersten Moment an anders gewesen. Ich lief niemals Gefahr, Lexie zu vergessen. Und das nicht bloß, weil ich das Erinnerungsfoto mit mir herumtrug, das ich jedes Mal vor Augen hatte, wenn ich mir die Zähne putzte oder die Hände wusch. Von der ersten Sekunde an, als ich das Cottage betrat, noch ehe ich ihr Gesicht überhaupt gesehen hatte, war es um sie gegangen. Zum allerersten Mal war der Mörder die Person, die ich immer wieder vergaß.
    Die Möglichkeit traf mich mit der Wucht einer Abrissbirne: Selbstmord. Ich hatte das Gefühl, von der Fensterbank gefallen zu sein, durch die Scheibe hindurch und in die kalte Luft hinein. Wenn dieser Mörder bislang so unsichtbar geblieben war, wenn Lexie die ganze Zeit im Zentrum des Falles gestanden hatte, dann vielleicht deshalb, weil es gar keinen Mörder gab: nur sie allein. In dem Sekundenbruchteil sah ich es so deutlich, als würde es sich auf dem dunklen Rasen unter mir in all seinem trägen, abscheulichen Schrecken entfalten. Die anderen, wie sie die Karten weglegten und sich streckten, Wo bleibt Lexie denn bloß? Und dann die Sorge, die immer unerträglicher wurde, bis sie sich schließlich Mäntel überzogen und hinaus in die Nacht gingen, um nach ihr zu suchen, Taschenlampen, windgepeitschter Regen, Lexie! Lex! Alle vier, dichtgedrängt in dem verfallenen Cottage, nach Luft schnappend. Zitternde Hände, die nach einem Puls fühlten, härter zudrückten; sie in den überdachten Raum trugen und behutsam hinlegten, das Messer nahmen, ihre Taschen nach irgendeinem Abschiedsbrief durchsuchten, irgendeiner Erklärung, irgendeinem Wort. Vielleicht – Herrgott – vielleicht hatten sie sogar etwas gefunden.
    Einen Augenblick später war ich natürlich wieder klar im Kopf, meine Atmung kam zurück, und ich wusste, dass das Unfug war. Es würde einiges erklären – Rafes Frustanfall, Daniels Misstrauen, Justins Nervosität, die transportierte Leiche, die durchsuchten Taschen –, und jeder von uns hat schon von Fällen gehört, wo Leute alles Mögliche inszeniert haben, von unwahrscheinlichen Unfällen bis hin zu Morden, nur damit ihre Lieben nicht als Selbstmörder gebrandmarkt werden. Aber mir fiel kein einziger Grund ein, warum sie sie die ganze Nacht dort hätten liegen lassen sollen, bis irgendwer sie fand, und außerdem rammen sich Frauen, die Selbstmord begehen wollen, normalerweise kein Messer in die Brust. Und vor allen Dingen war da die unverrückbare Tatsache, dass Lexie – selbst wenn das, was auch immer im März passiert war, das alles hier für sie irgendwie kaputtgemacht hatte, dieses Haus, diese Freunde, dieses Leben – der letzte Mensch auf Erden war, der sich umgebracht hätte. Selbstmörder sind Menschen, die keinen anderen Ausweg mehr sehen. Nach dem, was wir inzwischen über sie wussten, hatte Lexie kein Problem damit gehabt, einen Fluchtweg zu finden, wenn sie einen brauchte.
    Unten summte Abby vor sich hin. Justin nieste, eine Kette von kleinen gezierten Jaulern. Irgendjemand knallte eine Schublade zu. Ich lag im Bett und war schon fast eingeschlafen, als es mir einfiel: Ich hatte völlig vergessen, Sam anzurufen.

8
    Gott, diese erste Woche! Wenn ich nur daran denke, möchte ich in sie hineinbeißen wie in den rotbackigsten Apfel der Welt. Mitten in einer auf Hochtouren laufenden Mordermittlung, während Sam sich akribisch durch diverse Schattierungen von Abschaum hindurcharbeitete und Frank sich alle Mühe gab, dem FBI unsere Situation zu erklären, ohne sich

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