Totengrund
erwachsene Bezugsperson in Julians Leben.« Cathys Stimme wurde scharf wie eine Klinge. »Und dann lässt sie ihn im Stich.«
»Sie hat ihn hinausgeworfen?«
»Wie ein Stück Abfall. Weil der Prophet es verlangte.«
Die beiden Frauen starrten einander an, schweigend im Zorn vereint, bis die Kellnerin mit der Kaffeekanne wieder auftauchte. Stumm nippten sie beide an ihren Tassen, und das heiße Gebräu verstärkte nur das brennende Gefühl der Wut in Janes Magengrube.
»Und wieso sitzt Jeremiah Goode noch nicht im Gefängnis?«, fragte sie.
»Glauben Sie, ich hätte nicht alles versucht? Sie haben doch mitbekommen, wie die Leute dort im Saal auf mich reagiert haben. Ich bin die stadtbekannte Nörglerin, die nervige Feministin, die immer wieder mit ihren missbrauchten Mädchen ankommt. Und niemand will mir mehr zuhören.« Sie schwieg einen Moment. »Oder sie werden dafür bezahlt, dass sie nicht zuhören.«
»Jeremiah hat sie gekauft?«
»So ist es in Idaho gelaufen. Polizisten, Richter – die Zusammenkunft hat genug Bares, um sie alle zu kaufen. Seine Siedlungen sind von der Außenwelt abgeschnitten – keine Telefone, keine Radios. Selbst wenn ein Mädchen um Hilfe rufen wollte, sie hätte keine Chance.« Cathy stellte ihre Kaffeetasse ab. »Ich wünsche mir nichts mehr, als ihn und seine männlichen Anhänger in Handschellen zu sehen. Aber ich glaube nicht, dass es je dazu kommen wird.«
»Sieht Julian Perkins das auch so?«
»Er hasst sie alle. Das hat er mir gesagt.«
»So sehr, dass er einen Mord begehen würde?«
Cathy runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Sie waren doch bei diesem Doppelmord auf der Circle-B-Ranch. Dieses Paar gehörte zur Zusammenkunft.«
»Sie glauben doch nicht, dass Julian das getan hat.«
»Vielleicht ist das der Grund, weshalb er fliehen musste. Weshalb er den Deputy erschießen musste.«
Cathy schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe viel Zeit mit diesem Jungen verbracht. Er hat sich mit diesem streunenden Hund angefreundet, und ich kenne niemanden, der so liebevoll mit einem Tier umgeht. Er ist gar nicht fähig zu Gewalttaten.«
»Ich glaube, dass wir alle dazu fähig sind«, sagte Jane ruhig. »Wenn wir nur entsprechend provoziert werden.«
»Wenn er es tatsächlich getan hat«, erwiderte Cathy, »dann hatte er das Recht auf seiner Seite.«
27
Die Luft in der Schneehöhle stank nach nassem Hund, verschimmelten Kleidern und dem Schweiß zweier ungewaschener Leiber. Maura hatte seit Wochen nicht mehr gebadet, und bei dem Jungen war es wahrscheinlich noch wesentlich länger her. Aber der Unterschlupf war behaglich wie ein Wolfsbau, gerade groß genug, um sich auf dem Lager aus Kiefernzweigen ausstrecken zu können, und das Feuer, das Rat gemacht hatte, brannte schon munter. Im Schein der Flammen besah sich Maura ihre einst weiße Daunenjacke, die jetzt mit Ruß und Blut verschmiert war. Sie malte sich den schrecklichen Anblick aus, den ihr Spiegelbild bieten würde. Ich verwandle mich nach und nach in ein wildes Tier, dachte sie, genau wie diese beiden. Ein Tier, das sich in seiner Höhle verkriecht. Sie erinnerte sich an Berichte über Kinder, die von Wölfen großgezogen worden waren. Wenn man sie in die Zivilisation zurückholte, blieben sie wild und ließen sich partout nicht »zähmen«. Sie merkte, dass ihre eigene Verwandlung bereits eingesetzt hatte: Sie schlief und aß auf der harten Erde, hatte Tag für Tag dieselben Kleider an und kuschelte sich am Abend dicht an Bears Fell, um sich zu wärmen. Bald würde niemand sie wiedererkennen.
Vielleicht würde ich mich nicht einmal selbst wiedererkennen.
Rat warf ein Bündel Zweige aufs Feuer. Rauch quoll in der Schneehöhle auf, brannte ihnen in den Augen und im Hals. Ohne diesen Jungen würde ich hier draußen nicht eine Nacht überleben, dachte sie. Ich wäre längst erfroren, meine erstarrte Leiche schon halb unter Schneeverwehungen begraben. Aber Rat schien sich hier in der Wildnis zu Hause zu fühlen. Binnen einer Stunde hatte er diese Höhle gebaut, hatte eine Stelle auf der windgeschützten Seite eines Hügels ausgewählt und einen Tunnel schräg nach oben in den Schnee gegraben. Zusammen hatten sie Feuerholz und Kiefernzweige gesammelt, im Wettlauf mit der Dunkelheit und der tödlichen Kälte der Nacht.
Sie war überrascht, wie behaglich es am Feuer war, wo sie fest eingemummt dem Heulen des Winds vor der Tür aus Kiefernästen lauschte und zusah, wie Rat in seinem Rucksack kramte. Er holte
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