Totengrund
da erst ein dreizehnjähriges Mädchen ängstigen? »Ich glaube nicht, dass das der passende Zeitpunkt für Gruselgeschichten ist«, sagte sie.
»Na, wie wär ’ s dann mit komischen Geschichten? Sagt man euch Rechtsmedizinern nicht einen ganz speziellen schwarzen Humor nach?«
Maura wusste, dass er nur auf ein wenig Ablenkung hoffte, die ihnen helfen würde, die lange, kalte Nacht zu überstehen, aber sie war nicht in der Stimmung, die Alleinunterhalterin zu spielen. »Meine Arbeit ist ganz und gar nicht zum Lachen«, sagte sie. »Glaub mir.«
Lange Zeit waren alle still. Grace rückte näher an den Kamin und starrte ins Feuer. »Ich wünschte, wir wären im Hotel geblieben. Mir gefällt es hier überhaupt nicht.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung, Schatz«, pflichtete Elaine ihr bei. »Dieses Haus ist mir nicht geheuer.«
»Ach, ich weiß nicht«, meinte Doug, der wie üblich den optimistischen Standpunkt einnahm. »Das ist ein gutes, solide gebautes Haus. Es verrät uns, was für Menschen hier wahrscheinlich wohnen.«
Elaine lachte abschätzig. »Menschen mit einem miserablen Möbelgeschmack.«
»Ganz zu schweigen von ihrem Essensgeschmack«, meinte Arlo und deutete auf die leere Dose Schweinefleisch mit Bohnen.
»Dafür hast du es aber ziemlich schnell runtergeschlungen.«
»Das sind ja auch Extrembedingungen hier, Elaine. Da tut man alles, um zu überleben.«
»Und habt ihr die Kleider in den Schränken gesehen? Nichts als Holzfällerhemden und hohe Kragen. Pionierklamotten.«
»Moment, Moment. Langsam kriege ich eine Vorstellung von diesen Leuten.« Arlo drückte die Fingerspitzen an die Schläfen und schloss die Augen, wie ein Guru, der Visionen heraufbeschwor. »Ich sehe …«
»American Gothic!«, warf Doug ein.
»Nein, Beverly Hillbillies!«, rief Elaine.
»He, Ma«, intonierte Arlo mit breitem Akzent, »kann ich noch ’ n Schlag von dem Eichhörnchengulasch haben?«
Die drei Freunde brachen in schallendes Gelächter aus, ihre Stimmung angeheizt vom Whisky und dem Vergnügen am Spott über Menschen, denen sie nie begegnet waren. Maura lachte nicht mit.
»Und was siehst du, Maura?«, fragte Elaine.
»Komm schon«, stachelte Arlo sie an. »Spiel doch das Spielchen mit. Was glaubst du, wer diese Leute sind?«
Maura sah sich im Wohnzimmer um, kahl und schmucklos bis auf das gerahmte Poster des dunkelhaarigen Mannes mit den hypnotischen Augen und dem ehrfurchtsvoll nach oben gerichteten Blick. Es gab keine Gardinen und keinerlei Nippes. Die einzigen Bücher waren praktische Ratgeber: Dieselmotoren reparieren. Grundlagen der Sanitärinstallation. Der Heimtierarzt. Das war nicht das Haus einer Frau, das war nicht die Welt einer Frau.
»Er hat hier ganz allein das Sagen«, erwiderte sie. »Der Mann.«
Die anderen beobachteten sie und warteten darauf, dass sie fortfuhr.
»Seht ihr nicht auch, dass alles in diesem Zimmer absolut nüchtern und praktisch ist? Von der Anwesenheit einer Frau ist hier nichts zu spüren. Es ist, als ob sie nicht existierte, als ob sie unsichtbar wäre. Eine Frau, die keine Rolle spielt, eine Gefangene, der kein anderer Fluchtweg bleibt als der Griff zur Whiskyflasche.« Sie hielt inne, als sie plötzlich an Daniel denken musste, und Tränen trübten ihren Blick. Ich bin auch eine Gefangene. Eine Gefangene meiner Liebe, die ich nicht aufgeben kann. Da kann ich ebenso gut in einem einsamen Tal festsitzen, abgeschlossen von der Außenwelt. Sie blinzelte, und als sie wieder klar sehen konnte, merkte sie, dass alle sie anstarrten.
»Wow«, sagte Arlo leise. »Das Psychogramm eines Hauses – wirklich beeindruckend.«
»Du hast mich gefragt, was ich denke.« Sie trank den letzten Schluck Whisky aus ihrem Glas und stellte es mit einem Knall ab. »Ich bin müde. Ich lege mich jetzt schlafen.«
»Wir brauchen alle ein bisschen Schlaf«, sagte Doug. »Ich bleibe noch eine Weile auf und halte das Feuer in Gang. Wir dürfen es nicht ausgehen lassen, also müssen wir abwechselnd Wache halten.«
»Ich übernehme die nächste Schicht«, erbot sich Elaine. Sie rollte sich auf dem Teppich zusammen und zog ihre Decke über sich. »Weck mich, wenn ich dran bin.«
Die Dielen knarrten, als die anderen sich ebenfalls hinlegten und es sich auf dem geflochtenen Teppich so bequem wie möglich zu machen versuchten. Trotz des Feuers, das im Kamin brannte, war es nach wie vor kalt im Zimmer. Unter ihrer Decke trug Maura immer noch ihre Jacke. Sie hatten sich von den Betten im Obergeschoss
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