Totengrund
Leben!«
»Die glauben, dass Sie das sind.« Er deutete auf Elaines Handtasche.
»Es gab nie einen Unfall! Und Doug hat sich schon vor Tagen mit den Skiern auf den Weg gemacht!«
»Er ist nie angekommen.«
»Woher weißt du das?«
»Sie haben doch gehört, was der Nachrichtensprecher gesagt hat. Sie haben ihn geschnappt, bevor er im Tal ankam. Niemand ist lebend da rausgekommen, außer Ihnen. Und das nur, weil Sie nicht da waren, als sie kamen.«
»Aber sie sind gekommen, um uns zu retten ! Da war ein Schneepflug. Ich habe ihn die Straße heraufkommen gehört. Kurz bevor du …« Plötzlich wurde ihr schwindlig, und sie ließ den Kopf zwischen ihre Knie sinken. Das stimmt doch alles hinten und vorn nicht. Der Junge log sie an. Er verwirrte sie, jagte ihr Angst ein, damit sie bei ihm blieb. Aber wie konnte das Radio so irren? In den Nachrichten war von einem Unfall mit einem Suburban die Rede gewesen, bei dem es vier Tote gegeben hatte.
Eines der Opfer war Dr. Maura Isles aus Boston.
Ihr Kopf dröhnte, eine Folge des Schlags, den der Junge ihr versetzt hatte, um sie zum Schweigen zu bringen. Ihre letzte Erinnerung, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte, war die an seine Hand auf ihrem Mund. Sie hatte sich gewunden und verzweifelt um sich getreten, als er sie von der Straße gezerrt hatte, aus dem hellen Sonnenschein in das Halbdunkel des Waldes.
Dort, unter den Bäumen, brach ihre Erinnerung jäh ab.
Sie presste die Handflächen an die Schläfen, versuchte, den Schmerz zu ignorieren und scharf nachzudenken, versuchte, das, was sie gehört hatte, zu begreifen. Vielleicht hat er mich so fest geschlagen, dass ein Blutgefäß geplatzt ist. Vielleicht wird mein Gehirn gerade langsam vom aufgestauten Blut zusammengequetscht. Deswegen ergibt das alles keinen Sinn. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss meine Aufmerksamkeit auf das richten, was ich weiß , wovon ich absolut sicher bin, dass es stimmt. Ich weiß, dass ich lebe. Ich weiß, dass Elaine und Grace nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Die Radionachrichten irren. Der Junge lügt.
Ganz langsam versuchte sie aufzustehen. Der Junge und der Hund sahen zu, wie sie sich aufrappelte, wacklig auf den Beinen wie ein neugeborenes Kalb. Es waren nur ein paar Schritte zu der primitiv gezimmerten Tür, doch nach Tagen der Gefangenschaft waren ihre Muskeln geschwächt, ihre Bewegungen unsicher. Sie könnte versuchen, zu fliehen, doch sie wusste, dass sie den beiden niemals davonlaufen könnte.
»Es ist besser für Sie, wenn Sie hierbleiben«, sagte er.
»Du kannst mich nicht gefangen halten.«
»Wenn Sie gehen, werden sie Sie finden.«
»Aber du wirst mich nicht daran hindern?«
Er seufzte. »Das kann ich nicht, Ma ’ am. Wenn Sie nicht gerettet werden wollen.« Er sah seinen Hund an, als suchte er bei ihm Trost. Das Tier spürte den Kummer seines Besitzers und leckte ihm winselnd die Hand.
Sie schob sich langsam auf die Tür zu und rechnete jeden Moment damit, dass er sie zurückreißen würde. Doch der Junge rührte sich nicht von der Stelle, als sie die Tür aufzog und in die stockfinstere Nacht hinaustrat. Sofort versank sie im tiefen Schnee, der ihr bis zu den Oberschenkeln reichte, und verlor das Gleichgewicht. Als sie sich schwankend aufrappelte, sah sie sich von tiefschwarzen Wäldern umgeben. Hinter ihr drang der Schein des Feuers verlockend durch die offene Tür. Als sie sich umdrehte, sah sie den Jungen im Eingang stehen und sie beobachten. Seine Schultern zeichneten sich im Licht des Feuers ab. Sie blickte wieder nach vorn, zu den Bäumen, machte zwei Schritte und blieb stehen. Ich weiß weder, wo ich bin, noch, wohin ich gehe; ich weiß nicht, was mich dort im Wald erwartet. Sie konnte keine Straße sehen, kein Fahrzeug, nichts als die Bäume, die diese elende kleine Hütte umschlossen wie die Mauern eines Gefängnisses. Kingdom Come musste doch gewiss zu Fuß erreichbar sein. Wie weit konnte ein unterernährter Teenager ihren bewusstlosen Körper ohne Hilfe geschleppt haben?
»Es sind dreißig Meilen bis zur nächsten Stadt«, sagte er.
»Ich gehe ins Tal zurück. Da werden sie nach mir suchen.«
»Sie werden sich verlaufen, ehe Sie dort ankommen.«
»Ich muss meine Freunde finden.«
»Im Dunkeln?«
Sie ließ den Blick über den dunklen Waldrand schweifen. »Wo bin ich hier, verdammt noch mal?«, platzte sie heraus.
»In Sicherheit, Ma ’ am.«
Sie sah ihn an. Mit festeren Schritten trat sie auf ihn zu und sagte sich noch
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