Totengrund
einmal, dass sie es mit einem Jungen zu tun hatte, nicht mit einem Mann. Das ließ ihn weniger bedrohlich erscheinen. »Wer bist du?«, fragte sie.
Der Junge blieb stumm.
»Du willst mir nicht einmal deinen Namen sagen.«
»Der ist nicht wichtig.«
»Was tust du hier draußen ganz allein? Hast du keine Familie?«
Er holte Luft und ließ sie in einem tiefen Seufzer entweichen. »Ich wünschte, ich wüsste, wo sie sind.«
Maura blinzelte, als der Wind ihr Schnee in die Augen wehte. Als sie aufblickte, sah sie die ersten Flocken vom Himmel herabwirbeln, fein wie Puderzucker. Der Schnee überzog ihr Gesicht mit kalten Nadelstichen. Plötzlich kam der Hund aus der Hütte getrottet und leckte Mauras bloße Hand. Seine Zunge hinterließ eine glitschige Spur, die sich auf ihrer Haut kühl anfühlte. Er schien sie aufzufordern, ihn zu kraulen, und sie legte die Hand auf sein dichtes Fell.
»Wenn Sie unbedingt da draußen erfrieren wollen«, sagte der Junge, »kann ich Sie nicht daran hindern. Aber ich geh jetzt rein.« Er sah den Hund an. »Komm, Bear.«
Der Hund verharrte reglos. Maura spürte, wie das Fell in seinem Nacken sich plötzlich sträubte, während jeder Muskel seines Körpers sich anzuspannen schien. Den Blick zum Waldrand gerichtet, stieß Bear ein tiefes Grollen aus, das Maura ein eiskaltes Kribbeln über den Rücken jagte.
»Bear?«, rief der Junge.
»Was ist?«, fragte sie. »Warum macht er das?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie starrten beide in die Nacht hinaus und versuchten zu sehen, was das Tier so aufgeschreckt hatte. Sie hörten den Wind, das Rauschen der Bäume, aber nichts sonst.
Der Junge schnallte sich ein Paar Schneeschuhe unter. »Gehen Sie rein«, sagte er. Dann marschierte er mit seinem Hund los in Richtung Wald.
Maura zögerte nur ein paar Herzschläge lang. Wenn sie noch länger wartete, wäre der Vorsprung der beiden zu groß, als dass sie hoffen könnte, sie im Dunkeln zu finden. Mit pochendem Herzen folgte sie ihnen.
Anfangs konnte sie überhaupt nichts sehen, doch sie hörte das Knirschen der Schneeschuhe und das Knacken der Zweige, als der Hund vor ihr durchs Unterholz streifte. Je tiefer sie in den Wald eindrang, je mehr ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, desto mehr Einzelheiten konnte sie unterscheiden. Die hoch aufragenden Stämme der Kiefern. Und die beiden Gestalten, die sich vor ihr bewegten: den Jungen, der entschlossen voranschritt, und den Hund, der mit weiten Sätzen durch den Tiefschnee hechtete. Und durch die Bäume vor ihnen sah sie noch etwas anderes – einen dunstigen, orange getönten Lichtschein, der durch die fallenden Schneeflocken schimmerte.
Sie roch Rauch.
Ihre Beine zitterten vor Anstrengung, doch sie kämpfte sich weiter, getrieben von der Angst, zurückzubleiben und sich im Wald zu verirren. Der Junge und der Hund waren anscheinend unermüdlich, sie marschierten weiter und weiter, legten scheinbar endlose Wege zurück, während Maura immer mehr zurückfiel. Aber jetzt würde sie sie nicht mehr verlieren, denn sie konnte nun sehen, worauf sie zugingen. Sie wurden alle von jenem immer heller werdenden Schein angezogen.
Als sie die beiden schließlich einholte, stand der Junge völlig regungslos da, mit dem Rücken zu ihr, den Blick starr auf das Tal vor ihnen gerichtet.
Tief unter ihnen stand das Dorf Kingdom Come in hellen Flammen.
»O Gott«, stieß Maura hervor. »Was ist da passiert?«
»Sie sind zurückgekommen. Ich habe es gewusst.«
Sie starrte hinunter auf die Doppelreihe aus brennenden Häusern, so regelmäßig angeordnet wie Lagerfeuer in einem Militärcamp. Das war kein Unfall, dachte sie. Die Flammen waren nicht von einem Dachstuhl zum nächsten übergesprungen. Jemand hatte die Häuser absichtlich in Brand gesetzt.
Der Junge trat an den Rand des Abgrunds, so dicht, dass sie einen panischen Moment lang glaubte, er würde sich in die Tiefe stürzen. Er starrte hinunter, wie hypnotisiert angesichts der Zerstörung von Kingdom Come. Die verführerische Macht des Feuers hielt auch ihren Blick gefangen. Sie stellte sich vor, wie die Flammen an den Wänden des Hauses emporzüngelten, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, und alles in Asche verwandelten. Schneeflocken fielen herab und mischten sich mit den Tränen auf ihren Wangen. Tränen, die sie um Doug und Arlo weinte, um Elaine und Grace. Erst jetzt, als sie die Feuersbrunst im Tal sah, glaubte sie wirklich, dass sie alle tot waren.
»Warum mussten sie sterben?«, flüsterte
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