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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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aufgebläht durch die pelzbesetzte Kapuze. Irgendwo im Dunkeln winselte ein Hund und scharrte mit den Krallen. Das Tier kam näher, und sie roch seinen heißen Atem, spürte seine Zunge, als er ihr Gesicht ableckte. Es war ein riesiger Hund, seine Silhouette zottig und wolfsartig, und wenngleich er gutmütig wirkte, scheute sie vor seinen Zudringlichkeiten zurück.
    »Bear mag Sie. Die meisten Menschen mag er nicht.«
    »Vielleicht will er Ihnen sagen, dass ich in Ordnung bin«, sagte sie. »Und dass Sie mich gehen lassen sollten.«
    »Zu früh.« Er wandte sich ab und rückte näher ans Feuer, um die Bohnen aus dem Topf zu löffeln und sie mit animalischer Gier hinunterzuschlingen. Eingehüllt in Rauchschwaden, wirkte er wie eine primitive Kreatur, die im Schein eines urzeitlichen Lagerfeuers hockte.
    »Wie meinen Sie das – zu früh?«, fragte sie.
    Er aß einfach weiter, schlürfte die Bohnen geräuschvoll vom Löffel, vollkommen darauf konzentriert, seinen Magen zu füllen. Er war wie ein Tier, nach Schweiß und Rauch stinkend, kaum zivilisierter als sein Hund. Ihre Handgelenke waren wund von dem Seil, mit dem sie gefesselt war, ihre Haare verfilzt und voller Flöhe. Schon seit Tagen hustete und keuchte sie von dem Rauch, der die Luft in ihrem Unterschlupf verpestete. Sie erstickte beinahe hier drin, während diese widerliche Kreatur sich in aller Seelenruhe den Bauch vollschlug und sich den Teufel darum scherte, ob sie lebte oder starb.
    »Verdammt noch mal«, stieß sie hervor. »Lassen … Sie … mich … frei. «
    Der Hund stieß ein tiefes Knurren aus und gesellte sich zu seinem Herrn.
    Die Gestalt, die am Feuer hockte, drehte sich zu ihr um, und ihre Fantasie machte aus dem dunklen Fleck, der sein Gesicht war, eine grässliche Fratze, umso furchterregender, weil sie sie nicht sehen konnte. Schweigend griff er in seinen Rucksack. Als sie sah, was er da hervorzog, erstarrte sie. Im Schein der Flammen blitzte die Klinge auf, und wellenförmige Schatten huschten über die gezahnte Schneide. Ein Jagdmesser. Sie hatte im Sektionssaal gesehen, was ein solches Messer mit menschlichem Fleisch anrichten konnte. Sie hatte die aufgeschlitzte Haut unter die Lupe genommen, mit dem Lineal Wunden ausgemessen, bei denen die Klinge Muskeln und Sehnen und manchmal sogar Knochen durchtrennt hatte. Wie gebannt starrte sie das glänzende Metall an und wich ängstlich zurück, als er das Messer senkte.
    Mit einer ruckartigen Bewegung durchschnitt er das Seil, mit dem ihre Handgelenke zusammengebunden waren, und befreite sie anschließend von den Fußfesseln. Das Blut strömte in ihre Hände, während sie davonrobbte und sich in eine dunkle Ecke verkroch. Dort kauerte sie schwer atmend, und ihr Herz klopfte von der ungewohnten Anstrengung. Tagelang war sie gefesselt gewesen, hatte nur aufstehen dürfen, wenn sie den Eimer benutzen musste. Jetzt fühlte sie sich schwach und schwindlig, und der Boden unter ihr schien zu schwanken wie ein Schiff auf stürmischer See.
    Er trat näher, bis er direkt vor ihr stand und sie den Gestank der feuchten Wolle riechen konnte. Bislang war sein Gesicht immer von Schatten verdunkelt gewesen, aber nun konnte sie schmale, mit Ruß beschmierte Wangen ausmachen, ein bartloses Kinn. Hungrige, tief liegende Augen. Maura starrte in dieses hagere Gesicht und machte eine verblüffende Feststellung: Er war noch ein Junge, allenfalls sechzehn Jahre alt. Aber ein Junge, der groß und kräftig genug war, sie mit einem Hieb seines Messers zu fällen.
    Der Hund drängte sich dicht an seinen Herrn und bekam zur Belohnung den Kopf getätschelt. Junge und Hund starrten sie gemeinsam an, betrachteten dieses seltsame Wesen, das sie auf der Straße eingefangen hatten.
    »Du musst mich gehen lassen«, sagte Maura. »Sie werden nach mir suchen.«
    »Nicht mehr.« Der Junge steckte das Messer in sei nen Gürtel und ging zum Feuer zurück. Es war heruntergebrannt, und schon drang die kalte Luft in ihren Unterschlupf ein. Er legte ein neues Scheit nach, und die Flammen in dem Steinring loderten auf. Im helleren Schein des Feuers konnte sie mehr Einzelheiten des Verschlags erkennen, in dem sie gefangen gehalten wurde. Wie viele Tage bin ich schon hier? Sie wusste es nicht. Es gab keine Fenster, und sie konnte nicht erkennen, ob draußen Tag oder Nacht war. Die Wände bestanden aus grob behauenen Stämmen, abgedichtet mit getrocknetem Lehm. Eine Pritsche aus Zweigen mit ein paar Decken darüber diente dem Jungen als Bett.

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