Totengrund
Straßenrand zurück.
»Es wird ihn schwer treffen, wenn sie ihre Leiche finden«, sagte Gabriel, den Blick auf Sansone gerichtet.
»Du glaubst also, sie ist da unten irgendwo?«
»Wir müssen auf das Unvermeidliche vorbereitet sein.« Er beobachtete, wie Sansone unbeirrt weiter in die Schlucht hinabstieg. »Er ist in sie verliebt, nicht wahr?«
Sie lachte bekümmert. »Meinst du?«
»Was immer die Gründe sind, die ihn hierhergeführt haben, ich bin froh, dass er mitgekommen ist. Er hat uns die Sache wesentlich erleichtert.«
»Geld macht vieles leichter.« Sansones Privatjet hatte sie auf dem schnellsten Weg von Boston nach Jackson Hole gebracht und ihnen den Kampf um die Platzreservierungen erspart, das Schlangestehen an der Sicherheitskontrolle und den Papierkram, der für das Mitführen ihrer Waffen notwendig war. Ja, Geld machte vieles leichter. Aber macht es auch glücklicher?, dachte sie, als sie zu Sansone hinuntersah, der neben dem Wrack des Suburban stand wie ein Trauernder an einem frischen Grab.
Der Suchtrupp durchkämmte inzwischen das Gelände um den Wagen herum in immer weiteren Kreisen, doch die Hunde hatten offenbar noch immer keine Witterung aufgenommen. Als Martineau und Fahey schließlich mit der Umhängetasche, die Mauras Sachen enthielt, wieder zur Straße hinaufstiegen, wusste Jane, dass sie die Suche aufgegeben hatten.
»Die Hunde haben nichts gefunden?«, fragte Gabriel, als die beiden Männer schwer atmend oben ankamen.
»Komplette Fehlanzeige.« Martineau warf die Umhängetasche in seinen Wagen und schlug die Tür zu.
»Liegt es daran, dass schon zu viel Zeit vergangen ist?«, fragte Jane. »Vielleicht ist ihr Geruch inzwischen verflogen.«
»Einer der Hunde ist auf das Aufspüren von Leichen abgerichtet, und auch der hat nichts angezeigt. Der Hundeführer meint, das eigentliche Problem sei das Feuer. Der Benzin- und Rauchgeruch ist zu viel für ihre Nasen, er überlagert alles. Und dazu kommt der heftige Schneefall.« Er sah zu dem Suchteam hinunter, das sich schon anschickte, zu ihnen heraufzusteigen. »Wenn sie da unten ist, glaube ich nicht, dass wir sie vor dem Frühjahr finden werden.«
»Sie geben also auf?«
»Was sollen wir denn noch tun? Die Hunde finden nichts.«
»Also lassen wir ihre Leiche einfach da unten liegen? Wo sich Aasfresser darüber hermachen können?«
Fahey quittierte ihre Empörung mit einem müden Seufzer. »Wo sollen wir denn Ihrer Meinung nach anfangen zu graben, Ma ’ am? Zeigen Sie uns die Stelle, und wir legen los. Aber Sie müssen die Tatsache akzeptieren, dass das hier jetzt keine Rettungsaktion mehr ist, sondern nur noch eine Bergung. Selbst wenn sie den Unfall überlebt haben sollte, wäre sie kurz darauf an Unterkühlung gestorben. Es ist einfach zu viel Zeit vergangen.«
Die Mitglieder des Suchtrupps kletterten auf die Straße zurück, und Jane sah gerötete Gesichter, niedergeschlagene Mienen. Die Hunde wirkten ebenso entmutigt; keiner wedelte mehr mit dem Schwanz.
Als Letzter kam Sansone den Pfad herauf, und seine Miene war die grimmigste von allen. »Sie haben sich nicht genug Zeit gelassen«, sagte er.
»Selbst wenn die Hunde sie gefunden hätten«, gab Fahey ruhig zu bedenken, »hätte das nichts am Ausgang geändert.«
»Aber dann wüssten wir wenigstens Bescheid. Wir hätten eine Leiche, die wir begraben könnten«, sagte Sansone.
»Ich weiß, es ist schwer zu akzeptieren, dass Sie keinen Schlussstrich ziehen können. Aber so ist das hier draußen bisweilen. Ein Jäger bekommt einen Herzinfarkt, Wanderer verirren sich, Kleinflugzeuge stürzen ab. Manchmal finden wir die Überreste erst nach Monaten oder gar Jahren. Mutter Natur entscheidet, wann sie sie wieder freigibt.« Fahey hob den Blick, als es wieder zu schneien begann, trockene, pulvrige Flocken, die an Talkum erinnerten. »Und sie ist noch nicht bereit, diese Leiche freizugeben. Nicht heute.«
Er war sechzehn Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Wyoming, und sein Name war Julian Henry Perkins. Aber nur Erwachsene – seine Lehrer, seine Pflegeeltern und seine Betreuerin vom Jugendamt – hatten ihn je so genannt. Wenn er Glück hatte, nannten ihn seine Schulkameraden Julie-Ann. An einem schlechten Tag nannten sie ihn auch schon mal Schwuli-Ann. Er hasste seinen Namen, aber es war nun einmal der Name, den seine Mutter für ihn ausgesucht hatte, nachdem sie irgendeinen Film gesehen hatte, in dem der Held Julian hieß. Das war typisch für seine Mutter; immer machte
Weitere Kostenlose Bücher