Totengrund
Neben der Feuerstelle standen ein Kochtopf und einige Konservendosen, sauber zu einer Pyramide gestapelt. Ihr Blick fiel auf ein Glas Erdnussbutter, das ihr bekannt vorkam – es war dasselbe, das sie in ihrem Rucksack mitgenommen hatte.
»Warum tust du das?«, fragte sie. »Was willst du von mir?«
»Ich versuche, Ihnen zu helfen.«
»Indem du mich hierher verschleppst? Indem du mich gefangen hältst?« Sie konnte ein verächtliches Lachen nicht unterdrücken. »Hast du den Verstand verloren?«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und sein Blick war so finster, so durchdringend, dass sie schon fürchtete, zu weit gegangen zu sein. »Ich habe Ihnen das Leben gerettet«, sagte er.
»Man wird nach mir suchen. Und man wird die Suche nicht aufgeben, egal, wie lange es dauert. Wenn du mich nicht laufen lässt …«
»Niemand sucht nach Ihnen, Ma ’ am. Weil Sie nämlich tot sind.«
Seine Worte, so ruhig ausgesprochen, ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie sind tot. Einen flüchtigen Moment lang glaubte sie in ihrer Verwirrung, dass es vielleicht wirklich stimmte, dass sie tatsächlich tot war. Dass dies ihre Hölle war, ihre Strafe, auf ewig eingesperrt in dieser dunklen, frostigen Wildnis, die sie selbst geschaffen hatte, mit diesem seltsamen Begleiter, der halb Kind, halb Mann war. Er begegnete ihren fragenden Blicken mit verstörend unbewegter Miene und sagte kein Wort.
»Wie meinst du das?«, flüsterte sie.
»Die haben Ihre Leiche gefunden.«
»Aber ich bin doch hier. Ich lebe .«
»Im Radio haben sie aber was anderes gesagt.« Er warf noch ein Stück Holz aufs Feuer, und die Flammen schlugen hoch, füllten die Hütte mit beißendem Rauch, der ihr die Tränen in die Augen trieb und ihr im Hals brannte. Dann ging er in die Ecke und beugte sich über einen dunklen Haufen Kleider und Rucksäcke. Er kramte eine Weile darin herum und zog schließlich ein kleines Radio hervor. Er schaltete es ein, und blecherne Musik drang aus dem Lautsprecher, durchsetzt von statischem Rauschen. Ein Countrysong, gesungen von einer Frau, ein Klagelied über Liebe und Verrat. Er hielt ihr das Radio hin. »Warten Sie, bis die Nachrichten kommen.«
Doch ihr Blick war von dem Stapel Habseligkeiten in der Ecke gefangen. Sie sah ihren eigenen Rucksack, den sie getragen hatte, als sie sich auf den Weg über den Berg gemacht hatte. Und mit einem Schock erkannte sie noch etwas anderes.
»Du hast Elaines Handtasche genommen«, sagte sie. »Du bist ein Dieb.«
»Wollte wissen, wer da im Tal ist.«
»Das waren die Spuren von deinen Schneeschuhen. Du hast uns ausspioniert.«
»Hab darauf gewartet, dass jemand zurückkommt. Ich hab Ihr Feuer gesehen.«
»Warum bist du nicht einfach gekommen und hast uns angesprochen? Warum hast du dich heimlich angeschlichen?«
»Ich wusste ja nicht, wer Sie sind. Es hätten ja welche von seinen Leuten sein können.«
»Wessen Leute?«
»Von der Zusammenkunft«, antwortete er leise.
Sie erinnerte sich an die Worte, die in Gold auf die ledergebundene Bibel geprägt waren: Worte unseres Propheten. Die Weisheit der Zusammenkunft. Und sie erinnerte sich auch an das Porträt, das in jedem Haus hing. Seine Leute, hatte der Junge gesagt. Er meinte den Propheten.
Der Countrysong wurde ausgeblendet. Sie drehten sich beide zum Radio um, als die Stimme des Sprechers einsetzte.
»Inzwischen wurden weitere Einzelheiten über diesen schrecklichen Unfall an der Skyview Road bekannt. Vier Touristen kamen vergangene Woche ums Leben, als ihr Mietwagen, ein Suburban, von der Straße abkam und fünfzehn Meter tief in eine Schlucht stürzte. Die Opfer sind inzwischen identifiziert; es handelt sich um Arlo Zielinski und Dr. Douglas Comley aus San Diego sowie Comleys dreizehnjährige Tochter Grace. Das vierte Opfer war Dr. Maura Isles aus Boston. Dr. Isles und Dr. Comley hatten beide an einem medizinischen Kongress in der Stadt teilgenommen. Was die Unfallursache betrifft, könnten die vereisten Straßen und die schlechten Sichtverhältnisse während des Schneesturms am vergangenen Samstag eine Rolle gespielt haben.«
Der Junge schaltete das Radio aus. »Das sind Sie , nicht wahr? Sie sind diese Ärztin aus Boston.« Er griff in ihren Rucksack und nahm ihre Brieftasche heraus. »Ich habe Ihren Führerschein gefunden.«
»Ich begreife das nicht«, murmelte sie. »Das muss ein furchtbarer Irrtum sein. Sie sind nicht tot. Sie haben gelebt, als ich losgegangen bin. Grace und Elaine und Arlo, sie waren am
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