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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sie solche verrückten Sachen, wie ihrem Sohn einen Namen zu geben, den sonst niemand trug. Oder Julian und seine Schwester ihrem Großvater aufs Auge zu drücken, während sie mit einem Schlagzeuger durchbrannte. Oder zehn Jahre später einfach wieder aufzukreuzen, um ihre Kinder zu sich zu nehmen, nachdem sie den wahren Sinn des Lebens entdeckt hatte – bei einem Propheten namens Jeremiah Goode.
    All das hatte der Junge Maura erzählt, während sie langsam den Abhang hinunterstapften, mit dem hechelnden Hund im Schlepptau. Ein Tag war vergangen, seit sie die brennenden Häuser von Kingdom Come gesehen hatten, und erst jetzt hielt der Junge den Zeitpunkt für gekommen, wo sie gefahrlos ins Tal hinuntersteigen konnten. Er hatte ihr ein Paar behelfsmäßige Schneeschuhe unter die Sohlen gebunden, die er selbst zusammengebastelt hatte. Das Werkzeug hatte er in der Stadt Pinedale »organisiert«, wo die Leute manchmal praktischerweise vergaßen, ihre Haustüren abzuschließen. Maura überlegte, ob sie ihn darauf hinweisen sollte, dass man das Stehlen und nicht Organisieren nannte, doch sie glaubte nicht, dass er den Unterschied zu würdigen wüsste.
    »Wie willst du denn genannt werden, wenn dir der Name Julian nicht gefällt?«, fragte Maura, während sie auf Kingdom Come zumarschierten.
    »Ist mir egal.«
    »Den meisten Menschen ist es nicht egal, wie sie genannt werden.«
    »Ich weiß gar nicht, wieso man überhaupt einen Namen braucht.«
    »Sagst du deswegen immer Ma ’ am zu mir?«
    »Tiere benutzen auch keine Namen, und die kommen prima miteinander klar. Besser als die meisten Menschen.«
    »Aber ich kann doch nicht immerzu ›He, du‹ sagen.«
    Sie gingen eine Weile weiter, begleitet nur vom Knirschen ihrer Schneeschuhe. Der Junge ging voran, eine abgerissene Gestalt in der weißen Winterlandschaft, mit seinem Hund, der ihm auf Schritt und Tritt folgte. Und sie trottete brav hinter diesen beiden wilden, verdreckten Kreaturen her. Vielleicht war es ja ein Fall von Stockholm-Syndrom; jedenfalls hatte sie aus irgendeinem Grund den Gedanken, vor dem Jungen zu fliehen, völlig verworfen. Sie war auf ihn angewiesen, wenn sie nicht verhungern oder erfrieren wollte, und bis auf den einen Schlag auf den Kopf am allerersten Tag, als er in Panik versucht hatte, sie am Schreien zu hindern, hatte er ihr nie wehgetan. Ja, er hatte nicht ein einziges Mal Anstalten gemacht, sie auch nur anzurühren. Und so hatte sie sich bei allem Misstrauen in ihre Rolle irgendwo zwischen Gefangener und Gast gefügt, und in dieser Rolle folgte sie ihm nun hinunter ins Tal.
    »Rat«, sagte er plötzlich über die Schulter.
    »Was?«
    »Ratte – so nennt mich meine Schwester Carrie.«
    »Das ist aber kein sehr schöner Name.«
    »Der ist okay. Kommt von dem Film mit dieser Ratte, die kochen kann.«
    »Du meinst Ratatouille ?«
    »Genau. Unser Opa ist mit uns da reingegangen. Fand ich echt gut, den Film.«
    »Ich auch«, sagte Maura.
    »Also, jedenfalls hat sie irgendwann angefangen, mich Rat zu nennen, weil ich ihr manchmal morgens Frühstück mache. Aber sie ist die Einzige, die mich so nennt. Das ist mein Geheimname.«
    »Dann darf ich ihn wohl nicht benutzen.«
    Er ging eine Weile schweigend weiter den Hang hinunter, und sie hörte nur das Schlurfen seiner Schneeschuhe. Schließlich blieb er stehen und drehte sich zu ihr um, als wäre er nach gründlichem Nachdenken endlich zu einer Entscheidung gelangt. »Na schön, Sie dürfen ihn auch benutzen«, sagte er und ging gleich weiter. »Aber Sie dürfen ’ s keinem verraten.«
    Ein Junge namens Ratte und ein Hund namens Bär. Okay …
    Sie fand allmählich ihren Rhythmus auf den Schneeschuhen und kam ein wenig besser voran, obgleich sie immer noch Mühe hatte, mit dem Jungen und dem Hund Schritt zu halten.
    »Deine Mutter und deine Schwester haben also hier im Tal gewohnt. Und was ist mit deinem Vater?«, fragte sie.
    »Der ist tot.«
    »Oh. Das tut mir leid.«
    »Ist gestorben, als ich vier war.«
    »Und wo ist dein Großvater?«
    »Der ist letztes Jahr gestorben.«
    »Das tut mir leid«, wiederholte sie automatisch.
    Er blieb stehen und drehte sich um. »Sie müssen das nicht andauernd sagen.«
    Aber es tut mir wirklich leid, dachte sie, als sie ihn vor sich stehen sah, seine einsame Gestalt vor dem Hintergrund der endlosen weißen Weite. Es tut mir leid, dass die zwei Männer, die dich geliebt haben, nicht mehr leben. Es tut mir leid, dass deine Mutter offenbar in deinem Leben auftaucht

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