Totengrund
Mühe haben, ihrer Spur zu folgen, aber im tiefen Schnee würden sie nicht mit ihnen Schritt halten können. Bear lief voraus; sein blutverschmiertes Fell war wie eine rote Flagge, die ihnen den Weg wies, als er immer weiter ins Tal hineintrottete. Das Blut floss weiter aus Mauras aufgeschlitzter Hand, und sie presste den bereits klatschnassen Handschuh auf die Wunde, während irrationale Ängste vor Bakterien und Wundbrand sie plagten.
»Sobald wir sie abgehängt haben«, sagte Rat, »müssen wir zusehen, dass wir wieder den Berghang raufkommen.«
»Sie werden unsere Spuren bis zu unserem Unterschlupf verfolgen.«
»Da können wir nicht bleiben. Wir packen so viel Proviant ein, wie wir tragen können, und ziehen weiter.«
»Wer waren diese Männer?«
»Ich weiß es nicht.«
»Gehören sie zur Zusammenkunft?«
»Ich weiß es nicht.«
»Verdammt noch mal, Rat, was weißt du überhaupt ?«
Er blickte sich zu ihr um. »Wie man am Leben bleibt.«
Der Weg stieg jetzt an. Stetig erklommen sie den Berg, und jeder Schritt war Schwerstarbeit für Maura. Sie begriff nicht, wie der Junge so schnell sein konnte.
»Du musst mich zu einem Telefon führen«, sagte sie. »Damit ich die Polizei anrufen kann.«
»Die hat er doch alle in der Hand. Die tun alles, was er verlangt.«
»Sprichst du von Jeremiah?«
»Niemand stellt sich gegen den Propheten. Niemand setzt sich je zur Wehr, nicht mal meine Mom. Nicht mal, wenn sie …« Er brach ab und schien plötzlich seine ganze Energie darauf zu verwenden, den Hügelkamm zu erklimmen.
Außer Atem hielt sie inne. »Was haben sie mit deiner Mutter gemacht?«
Er kletterte einfach weiter; seine Wut schien ihn zu einem mörderischen Tempo anzutreiben.
»Rat.« Sie mühte sich, zu ihm aufzuschließen. »Hör mir zu. Ich habe Freunde, Menschen, denen ich vertrauen kann. Bring mich einfach nur zu einem Telefon.«
Er blieb stehen, und sein Atem stieg in Wolken auf wie der Dampf aus einer Lokomotive. »Wen wollen Sie anrufen?«
Daniel war ihr erster Gedanke. Aber dann fiel ihr ein, wie oft sie ihn in der Vergangenheit nicht hatte erreichen können, und sie dachte an all die verkrampften Telefongespräche, bei denen andere mitgehört hatten und er gezwungen war, sich verschlüsselt auszudrücken. Jetzt, da sie ihn so dringend gebraucht hätte, wusste sie nicht, ob sie auf ihn zählen konnte.
Vielleicht habe ich das nie gekonnt.
»Wie heißt Ihr Freund?«, hakte Rat nach.
»Es ist eine Freundin – sie heißt Jane Rizzoli.«
25
Sheriff Fahey war offenbar nicht gerade begeistert, Jane wiederzusehen. Schon als sie das Großraumbüro betrat, konnte sie es an der genervten Miene ablesen, mit der er sie durch die gläserne Trennwand anstarrte. Offenbar rechnete er damit, dass sie ihn mit neuen Forderungen belästigen würde. Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und wartete resigniert in der Tür seines Büros, während sie auf ihn zuging, an den Arbeitsplätzen seiner Mitarbeiter vorbei, die inzwischen an den Anblick der drei Besucher aus Boston gewöhnt waren. Noch ehe sie die erwartete Frage stellen konnte, kam er ihr mit der gleichen Antwort zuvor, die er ihr schon seit zwei Tagen immer wieder gab.
»Es gibt keine neuen Entwicklungen«, sagte er.
»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Jane.
»Sie können sich darauf verlassen, dass ich Sie sofort anrufe, wenn sich etwas tut. Es ist wirklich nicht nötig, dass Sie und Ihre Freunde immer wieder herkommen.« Er spähte über ihre Schulter. »Wo sind denn Ihre beiden Begleiter heute?«
»Im Hotel, beim Kofferpacken. Ich dachte mir, ich schaue noch einmal vorbei, um mich bei Ihnen zu bedanken, ehe wir zum Flughafen fahren.«
»Sie reisen ab?«
»Ja, wir fliegen heute Nachmittag zurück nach Boston.«
»Ich habe da etwas von einem Privatjet läuten hören. So was hätte ich auch gerne.«
»Der Jet gehört nicht mir.«
»Sondern diesem Gentleman in Schwarz, hab ich recht? Ein merkwürdiger Vogel.«
»Sansone ist ein guter Mann.«
»Ist manchmal schwer zu beurteilen. Wir haben hier eine Menge Leute, die im Geld schwimmen. Hollywood-Typen, große Tiere aus der Politik. Die kaufen sich ein paar hundert Morgen Land, nennen sich Rancher und meinen, das gibt ihnen das Recht, uns vorzuschreiben, wie wir unsere Arbeit zu machen haben.« Obwohl er es allgemein formulierte und keine Namen nannte, waren seine Worte eigentlich gegen sie gerichtet, gegen die Außenseiter aus Boston, die einfach in seinem Revier aufkreuzten
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