Totengrund
gemeldet. Er sagt, er übernimmt den Einsatz. Er ist schon auf dem Weg nach Doyle Mountain.«
Das Telefon in der Küche klingelte und klingelte.
»Lass mich doch drangehen«, sagte Maura.
»Wir müssen weg von hier.« Der Junge räumte die Regale in der Speisekammer leer und warf die Lebensmittel in seinen Rucksack. »Auf der hinteren Veranda habe ich eine Schaufel gesehen. Bringen Sie mir die.«
»Das ist meine Freundin – sie versucht, mich zu erreichen.«
»Die Polizei wird schon kommen.«
»Es ist in Ordnung, Rat. Du kannst ihr vertrauen.«
»Aber denen kann man nicht vertrauen.«
Wieder läutete das Telefon. Sie drehte sich um und wollte hingehen, doch der Junge packte die Schnur und riss sie aus der Wand. »Sind Sie lebensmüde ?«, schrie er.
Maura ließ den Hörer fallen und wich zurück. In seiner Panik wirkte der Junge einschüchternd, ja gefährlich. Sie sah auf die Telefonschnur, die in seiner Faust baumelte – einer Faust, die kräftig genug war, um ihr das Gesicht zu zerschlagen, ihr die Luftröhre zu zerquetschen.
Er warf die Schnur zu Boden und atmete tief durch. »Wenn Sie mit mir kommen wollen, müssen wir sofort aufbrechen.«
»Es tut mir leid, Rat«, sagte sie ruhig. »Aber ich komme nicht mit dir. Ich warte hier auf meine Freundin.«
Was sie in seinen Augen sah, war nicht Zorn, sondern Kummer. Schweigend schulterte er seinen Rucksack und nahm ihre Schneeschuhe, die sie nun nicht mehr brauchen würde. Ohne sich noch einmal umzusehen, ohne ein Wort des Abschieds, wandte er sich zur Tür. »Komm, Bear«, sagte er.
Der Hund zögerte; sein Blick ging zwischen den beiden hin und her, als ob er versuchte, diese verrückten Menschen zu verstehen.
»Bear!«
»Warte«, sagte Maura. »Bleib bei mir. Lass uns zusammen in die Stadt zurückkehren.«
»Ich gehöre nicht in die Stadt, Ma ’ am. Da hab ich noch nie hingehört.«
»Du kannst doch nicht allein da draußen herumirren.«
»Ich irre nicht herum. Ich weiß, wohin ich gehe.« Wieder sah er seinen Hund an, und diesmal folgte Bear ihm.
Maura sah dem Jungen nach, als er zur Hintertür hinausging, dicht gefolgt von seinem Hund. Durch das zerbrochene Küchenfenster sah sie die beiden durch den Schnee auf den Waldrand zustapfen. Der wilde Junge und sein Gefährte, die in die Berge zurückkehrten. Einen Augenblick später waren sie zwischen den Bäumen verschwunden, und sie fragte sich, ob sie überhaupt je existiert hatten, ob diese imaginären Retter nicht eine Ausgeburt ihrer Fantasie waren, hervorgerufen durch Angst und Isolation. Aber nein, sie konnte ihre Spuren im Schnee sehen. Der Junge war echt.
So echt wie Janes Stimme vorhin am Telefon. Die Welt um sie herum hatte sich doch nicht in nichts aufgelöst. Hinter diesen Bergen gab es immer noch Städte, gab es immer noch Menschen, die ihren Alltagsgeschäften nachgingen. Menschen, die sich nicht in den Wäldern verkrochen wie ein gehetztes Wild. Zu lange war sie in der Gesellschaft des Jungen gewesen, gefangen in seiner Welt, und fast schon hatte sie wie er geglaubt, nur in der Wildnis sicher zu sein.
Es war Zeit, in diese reale Welt zurückzukehren. In ihre Welt.
Sie untersuchte die Telefonschnur und stellte fest, dass sie zu stark beschädigt war, um sie wieder anschließen zu können. Aber sie hatte keinen Zweifel, dass es Jane trotzdem gelingen würde, sie ausfindig zu machen. Jetzt muss ich einfach nur warten, dachte sie. Jane weiß, dass ich am Leben bin. Es wird jemand kommen und mich hier rausholen.
Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Die Hütte war nicht beheizt, und der Wind blies zum offenen Küchenfenster herein, weshalb sie ihre Jacke anbehielt. Sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen dieses Fensters, das Rat eingeschlagen hatte, damit sie ins Haus gelangen konnten. Und dann waren da noch das zerrissene Telefonkabel und die geplünderte Speisekammer – alles Schäden, für die sie selbstverständlich aufkommen würde. Sie würde einen Scheck schicken, begleitet von einer aufrichtigen Entschuldigung. Da saß sie nun in diesem fremden Haus, in das sie unbefugt eingedrungen war, und starrte die Fotos in den Bücherregalen an. Sie sah Bilder von drei kleinen Kindern vor diversen Hintergründen und eine grauhaarige Frau, die stolz eine imposante Forelle hochhielt. Die Bücher in den Regalen waren hauptsächlich leichte Urlaubslektüre. Mary Higgins Clark und Danielle Steel – die Büchersammlung einer Frau mit herkömmlichem Geschmack, die auf
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