Totenklang
Meine Vorräte sind bis auf einige Gewürze zusammengeschmolzen. Ich registriere, dass das klamme Gefühl stärker wird, ich aber trotzdem hier neben dem alten, gelernten Spaßmacher kleben bleibe. Die Erdanziehung versucht mich zu übertölpeln.
Mein Blick schweift über die Landschaft im Dunkeln, mein Gehör vernimmt aggressives Hupen oben auf der Bahn. Wenn da jetzt einer einen Fahrfehler beginge, käme er hier unten vor meinen Füßen an. Was, wenn es sich dabei um einen Lebensmitteltransporter handelte? Jetzt aber mal halblang. Doch auch meine Gedanken sind frei. In mir zupft Hannes Wader seine Gitarre und stimmt an: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten … Vor meinem inneren Auge fliegt ein Laster vorbei, ohne Essen, stattdessen ist er beladen mit Katzenstreu.
Ein nächtlicher Schatten huscht hinter mir. Es könnte ein Marder gewesen sein. Neben mir röchelt der Alte. Ich werde ihm eine Decke bringen.
Das Wochenende steht ebenfalls unter dem Motto ›frei‹. An den Werktagen, vielmehr den Werknächten jobbe ich bei Rudi. Samstags und sonntags bin ich auf Abruf. Dieses Wochenende und die kommende Zeit allerdings nicht, denn Susannes Neffe will sich unbedingt einige Euros für sein Auslandssemester verdienen. Er müsse ihm das gestatten, sonst gebe es Ärger mit den Schwiegereltern. Den will Rudi nicht, denn den betagten, aber noch fitten Schwiegereltern, sie hängen am Geld und am Leben, gehört eine gut gehende Baufirma. Die Entscheidungen meines Arbeitgebers sind nicht sehr frei, er scheint es aber zu glauben. Ich denke, das in seiner Familie ausgeprägte Geiz-Gen wird dominant vererbt und setzt sich somit durch. Da kann er dann gar nichts gegen machen. Ich mag ihn und seine Frau. Ehrliche, berechenbare Leute.
Der Alte lässt einen kraftlosen Furz und rollt auf den Rücken, dabei schlägt sein Mantel wieder auf. Er scheint das Schlafen unter freiem Himmel gewohnt zu sein. Doch der Himmel hält sich im Moment bedeckt. Das erinnert mich an die Decke, die ich holen wollte. Der ausschlaggebende Impuls, mich endlich zu erheben. Es steht 1:0 im Spiel um die Trägheit ›Heiner gegen Schwerkraft‹. Bis zu meinem Bauwagen sind es nur ein paar Schritte. In der Zeit wird Catweazle wohl nicht ins Wasser rollen. Ich sollte ihn gleich ein Stück weiter vom Ufer wegschaffen.
Die Weltmeisterschafts-Decke, ein Werbegeschenk aus der Tankstelle, passt so halbwegs über den alten Mann. Den ersten Gedanken, den ich hatte, als er sagte, er sei Musiker, hatte ich eben schon ganz schnell verworfen. Ich werde ihn nicht fragen, ob er mir das Bending auf der Harp erläutern kann. Seine faulige Fuselfahne lässt meine Nase kraus werden. Während ich mich über ihn beuge, fällt mein Blick auf eine verschlissene Brieftasche, die ein wenig aus dem Innenfutter des Mantels ragt. Ich kann dem Sog nicht widerstehen und nehme sie vorsichtig an mich. Obwohl man die Sterne nicht funkeln sehen kann, reicht das fahle Mondlicht, um eine Ahnung vom Inhalt der Brieftasche zu bekommen. Es ist mehr eine kleine Mappe. Ausschließlich Fotografien scheinen sich darin zu befinden und altes, merkwürdig bedrucktes, ganz dünnes Papier. Das fasse ich lieber nicht an, am Ende zerbröselt es mir zwischen den Händen. Das erste Foto zeigt ein Frauengesicht. Ob es schön ist, vermag ich nicht zu bestimmen, dazu reicht das Licht nicht. Die Frau wurde sicherlich oft betrachtet, denn das Bild fühlt sich weich und zerknittert an. Auf einem weiteren Foto ist eine Familie zu erkennen. Eltern und drei Kinder nebst Hund, der nach einem Stock zu springen scheint, den eines der Kinder, ein Junge, in die Höhe hält. Jetzt kommt eine neuere Aufnahme. Hierauf ist eine junges Paar mit Baby im Grünen zu sehen. Der Park im Hintergrund könnte zum oberen Schloss Siegens gehören. Der Alte gibt einen Grunzlaut von sich. Ich fühle mich ertappt und stecke ihm die Brieftasche flugs wieder in den Mantel. Dabei erhasche ich einen scharfen Geruch nach Urin. Frischen und gut durchgezogenen. Inkontinent, auch das noch. Soll so das Ende sein? Na, vielleicht hat er sich nur die Nieren oder die Blase verkühlt. Ich muss an meine Oma denken, so ein böses Ende gönnt man seinem schlimmsten Feind nicht. Klaren Verstandes und körperlich intakt einschlafen und morgens nicht mehr aufwachen oder einen heimtückisch endenden Hinterwandinfarkt beim Sex mit einer begehrten Frau, das ein oder andere wünschen sich viele.
Selbstbestimmt in den Tod. Um alles darf man
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