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Totenklang

Totenklang

Titel: Totenklang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sinje Beck
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das Gebiss weg und würde außerhalb seines Mundes eine neue Existenz beginnen. Ich kann meinen Blick kaum von den künstlichen Zähnen, die ein Eigenleben zu führen scheinen, abwenden.
    »Die Straße macht derb. Wie lang lebst du schon draußen?«, will er wissen, nachdem er den letzten Bissen hinuntergespült hat.

2
    Hier liegt ein Irrtum vor. Ich lebe nicht auf der Straße. Mein Domizil ist fahrbar und steht auf dem Parkplatz zum Weiher. Ich erzähle dem Alten, dass ich stolzer Bauwagenbewohner bin, Tagelöhner mit sozialen Bindungen in der waldreichen Region des Siegerlandes. Seit ich denken, wirklich frei, unkommentiert, unzensiert, unwidersprochen, auch mal laut denken kann, also seit meiner Scheidung von Marie vor einigen Jahren, bin ich 44 Jahre alt und das wird mental so bleiben. Das sei beschlossene Sache, erzählt es aus mir heraus.
    Meinen Aushilfsjob an der Tankstelle Kalteiche bei Rudi habe ich immer noch. Ich bin da quasi nicht mehr wegzudenken, das meinen auch Rudi und seine Frau Susanne. Bei den beiden bin ich auch offiziell gemeldet, denn ich habe ja die Hoffnung auf eine feste Arbeit noch nicht aufgegeben. Daran halte ich fest, wie auch an meinem Zopf, der mir nun schon weit bis über den Rücken reicht und mit jedem Zentimeter meine ungebundene Lebensart deklariert. Vierundsechzigeinhalb Einheiten Single, Gelegenheitsjobber, Camper, frei, möchte man sagen. Nach unten hin dünnt sich die wallende Pracht allerdings arg aus.
    Im Überschwang des neuen Lebensgefühls nach der Scheidung und nach dem festen Wohnsitz habe ich mir gedacht, dass es gut passe, wenn ich endlich ein Instrument beherrschen könnte. Seit nun zwei Wochen versuche ich, Mundharmonika zu lernen. Da braucht es erst mal keine Noten. Einer geschenkten Blues-Harp entlocke ich die ersten Töne nach einem gebrauchten Selbstlernbuch. Meine Zuversicht, das Ding irgendwann einmal bluesig erklingen zu lassen, ist noch ungebrochen.
    »Grau dein Schopf, leer das Konto, reich an Illusionen«, fasst der alte Mann zusammen. »Dein Name?«
    »Heiner Himmel.«
    »Das ist gut«, sagt er daraufhin, weiter nichts. Was daran gut sein soll, erschließt sich mir nicht, da ich als Kind zu gerne von anderen Kindern blöder Heini gerufen wurde. Der Letzte, der das zu mir sagte, hieß Mario Nümer. Der hatte es gerade nötig, er schlug bereits zu, sobald sich bei einem ein Mundwinkel anschickte, nach oben zu gehen, wenn sein Name fiel. Die Mädchen standen trotz oder gerade deswegen total auf ihn. Ich dann auch, wobei ich mehr auf ihm kniete, während ich ihm seine Schneidezähne mit einem durchgeseichten Tafellappen polierte. Von Haus aus bin ich sehr friedlich, beinahe trottelig friedlich, das weibliche Geschlecht wusste dies stets auszunutzen, doch in dem Moment flossen alle aufgestauten Frustrationen meines sechzehnjährigen Lebens in meine rechte Faust und trieften durch den Lappen in den Schlund des Großmauls. Eine Fünf in Deutsch, ein Furunkel in der Achsel, eine fiebrige Erkältung im Anmarsch und eine fies lachende Schwester im Anhang, dazu die feixende Fratze des Mädchenschwarms, das war ein Tick zu viel. Nümer, früher auch nach seinem Standardspruch angekündigt: Achtung, da kommt Willst-n-paar-aufs-Maul-Mario, ist heute Polizist mit Schmerbauch, meine Schwester verheiratet mit einem Holländer, hütet ein Rudel Kinder und mein zweiter Name könnte Toleranz lauten. Das nennt man wohl Entwicklung.

3
    »Mit wem habe ich die Ehre?«, frage ich, nachdem die Flasche Wein geleert ist. Reginald heiße er. Das überrascht mich, er sieht mehr wie ein getaufter Hermann oder Werner aus, bevor er Catweazle wurde. Richy nenne er sich, das passe besser zu seinem Beruf. Ein Künstler der alten Schule sei er. Er habe den Spaß von der Pike auf gelernt. Na, das erklärt so einiges, denke ich. Hier muss ich einhaken und frage, was für eine Art Kunst er betreibe.
    »Entertainer, sagt man dazu. Klingt besser als Unterhaltungskünstler. Ich musiziere, singe, tanze, bin Clown, Artist, Idiot, was gerade so gebraucht wird. Das ist so eine Sache mit dem Gebrauchtwerden. – Überflüssig, ja, von Beruf überflüssig. Das gefällt mir!«, lacht er kurz und bitter auf, kippt zur Seite weg und liegt still. Erschrocken will ich aufspringen, doch dann halte ich in der Aufwärtsbewegung inne, denn der Mann schnarcht. So ein friedliches Schnarchen. Leise Grunzgeräusche beim Einatmen und ein zischendes Pu beim Ausatmen. Hoffentlich rutscht ihm das Gebiss nicht in den

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