Totenkünstler (German Edition)
nicht an meine Ecke. Ich hab mir ein bisschen Sorgen gemacht. Ich dachte, vielleicht ist ihr das Gleiche passiert wie mir. Dass dieselben vier Scheißkerle über sie hergefallen sind. Ich hab ja gesagt, es hat danach eine Woche gedauert, bis ich wieder arbeiten konnte, und ich war viel kräftiger als sie. Ich hab sie nie wiedergesehen. Aber vielleicht hat sie nach der Nacht auch aufgehört. Hoffe ich wenigstens. Sie hat gesagt, sie bräuchte es nur ein Mal zu machen. Oder sie hat Schiss bekommen. Das ist häufig so bei den Neuen. Sobald sie ihren ersten gewalttätigen Freier kriegen – und den kriegen früher oder später alle –, stellen sie fest, dass der Strich doch nicht das Richtige für sie ist. Arschloch und seine Freunde hab ich danach auch nicht wiedergesehen.«
Hunter wollte noch mehr wissen. »Hat diese Roxy Ihnen jemals gesagt, wie ihr Kind heißt?«
»Bestimmt, aber ich hab’s vergessen. Das ist achtundzwanzig Jahre her.« Erneut machte Jude Anstalten, aufzustehen und zu gehen.
Hunter erhob sich ebenfalls und hielt ihr eine Visitenkarte hin. »Falls Ihnen noch was einfällt, einer der Namen zum Beispiel, würden Sie mich bitte anrufen? Egal um welche Uhrzeit.«
Jude sah Hunters Karte an, als wäre sie giftig. Nach langem Zögern nahm sie sie schließlich und verließ das Café.
Hunters einziger Gedanke war, dass er sich geirrt hatte. Das Schattenbild von Andrew Dupeks Boot stellte keine Schlägerei dar. Sondern eine Vergewaltigung.
105
Es war nach zehn Uhr abends, als Hunter in seine Wohnung zurückkam. Er fand keinen Schlaf. Sein Gehirn konnte einfach nicht abschalten. Statt dagegen anzugehen, nahm er sich noch einmal den Karton voller Fotos aus Littlewoods Wohnung vor. Er breitete sie im Wohnzimmer auf dem Fußboden aus und verglich sie mit dem Hochzeitsfoto, das Allison ihm überlassen hatte. Er wusste ja bereits, dass die Mordopfer einander gekannt hatten, und wenn Derek Nicholson auf einem der Fotos zu finden war, dann vielleicht auch das bislang unbekannte vierte Mitglied der Gruppe.
Nach einer Stunde auf den Knien mit einer Lupe vor dem Auge ließ Hunter es sein. Er war müde. Seine Beine taten weh, und er brauchte dringend Schlaf. Seine Augen brannten, Nacken und Schultern waren verspannt. Aber noch immer arbeitete sein Verstand verbissen weiter.
Er hörte, wie das Pärchen nebenan von einer ihrer zahlreichen Kneipentouren zurückkam. Türen wurden geknallt, dann folgte betrunkenes Gemurmel.
»Ich muss mir dringend neue Nachbarn zulegen.« Hunter lachte leise, bevor er sich wieder den Fotos der Schattenbilder zuwandte. Die neuen Informationen, die sie im Laufe der letzten Stunden zutage gefördert hatten, wirbelten in seinem Kopf herum.
Auf der anderen Seite der Wand war Kichern und Stöhnen zu hören. »O nein, nicht das«, knurrte Hunter. »Bitte nicht im Wohnzimmer.«
Das Stöhnen wurde lauter.
»Verdammt!« Jeden Moment würde das dumpfe Pochen gegen die Wand losgehen. Er verschränkte die Finger und legte sich die Hände auf den Kopf, während er versuchte, sich erneut auf die Bilder am Fußboden zu konzentrieren.
Je länger er darüber nachdachte, desto logischer erschien es ihm. Nicholson, Dupek, Littlewood und der Vierte im Bunde, wer auch immer er gewesen war, hatten eine Frau vergewaltigt. Gut möglich, dass es das Mädchen war, von dem Jude ihnen erzählt hatte – Roxy –, oder eine andere Prostituierte. Aber was war mit dem Opfer geschehen? Hatte die Sache einen schlimmen Ausgang genommen? War sie tot?
Die lauten Geräusche von nebenan störten Hunter längst nicht mehr. Er war ganz in seiner eigenen Welt. Systematisch ging er alle bekannten Fakten des Falls durch.
Er war so in Gedanken, dass es eine ganze Weile dauerte, bis das Klingeln des Telefons zu ihm durchdrang. Er blinzelte zweimal und sah sich im Zimmer um, als wisse er im ersten Moment nicht, wo er war. Sein Handy lag neben dem Drucker auf dem Tisch. Es fing erneut an zu klingeln, und Hunter klappte es auf, ohne einen Blick auf das Display zu werfen.
»Detective Hunter.«
»Detective, hier ist noch mal Jude. Wir haben uns heute unterhalten.«
»Ja, natürlich.« Hunter war überrascht, doch seine Stimme verriet nichts.
»Tut mir leid, dass ich so spät anrufe, aber mir ist tatsächlich noch was eingefallen. Eigentlich wollte ich bis morgen früh warten, aber es geht mir nicht aus dem Kopf, und ich kann nicht schlafen. Sie haben gesagt, dass ich mich jederzeit melden kann, wenn mir noch was
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