Totenkünstler (German Edition)
dass er es irgendwie über die Jahre hinweg im Auge behalten hatte – dass er wusste, wer dieses Kind war und wo es sich aufhielt. Ich habe alle Möglichkeiten durchgespielt, und dann hat Jude mich gestern Nacht noch mal angerufen. Ihr war der Name von Roxys Kind wieder eingefallen – Levy.«
Olivia fuhr zusammen.
»Zuerst dachte ich, es wäre der Nachname oder vielleicht ein Jungenname. Er kam mir irgendwie bekannt vor, und als ich mir dann das Hochzeitsfoto von Nicholson und seiner Frau noch mal angeschaut habe, das Ihre Schwester mir gegeben hat, wusste ich plötzlich wieder, wo ich ihn schon mal gehört hatte. Es war ein Kosename. Allison hat Sie so genannt, neulich in Ihrer Wohnung. Ein eher ungewöhnlicher Kosename für jemanden, der Olivia heißt – aber es war Ihr Kosename.«
In Olivias Gesicht erschien ein wehmütiges Lächeln. »Meine Mutter hat mich immer Levy genannt, nie Liv oder Ollie. Ich mochte den Namen. Er war irgendwie anders. Allison war die Einzige, die mich so genannt hat.«
»Danach habe ich mir Ihren Werdegang angeschaut. Sie haben Medizin studiert.«
Olivia zuckte mit den Schultern. »An der UCLA. Irgendwann habe ich gemerkt, dass es nicht das Richtige für mich ist. Aber das Wissen hat sich als ganz nützlich erwiesen.«
Danach versank sie wieder in Schweigen, also sprach Hunter weiter.
»Ich habe jemanden angerufen, der sich Zugang zur Datenbank der kalifornischen Sozialbehörden verschaffen konnte. Auf diese Weise habe ich rausgefunden, dass Nicholson Sie während seines ersten Ehejahres adoptiert hat. Eine etwas merkwürdige Entscheidung für ein junges Paar, das, soweit bekannt, keinerlei Schwierigkeiten hatte, eigene Kinder zu bekommen. Im Gegenteil, Nicholson hat Sie adoptiert, als seine Frau bereits mit ihrer ersten Tochter schwanger war – mit Allison.«
»Dann wissen Sie ja auch, dass er mich nur aus schlechtem Gewissen adoptiert hat. Wegen dem, was er getan hatte.« Die Wut war in Olivias Stimme zurückgekehrt. »Er hat sich schuldig gefühlt, weil er zu der Gruppe von Tieren gehört hat, die meine Mutter vergewaltigt und getötet haben. Weil er einfach dabei zugesehen und nichts unternommen hat. Weil er hinterher nicht zur Polizei gegangen ist.«
Hunter sagte nichts.
»Wie sollte ich damit weiterleben, Robert, können Sie mir das verraten? Ich hatte nämlich keine Ahnung. Er hat mich auf seinem Sterbebett zu sich gerufen, um mir mitzuteilen, dass mein ganzes Leben eine Lüge war. Dass er und seine Frau mich nicht adoptiert haben, weil sie mir Liebe und Fürsorge schenken wollten, sondern um an mir ihre Schuld abzuarbeiten.«
»Ich denke nicht, dass Dereks Frau von dem Vorfall wusste«, sagte Hunter.
»Das spielt doch überhaupt keine Rolle!«, spie Olivia wutentbrannt. »Er hat sie überredet, mich bei sich aufzunehmen. Er hat ihr gesagt, meine Mutter wäre ein Junkie gewesen und hätte mich verlassen. Er hat ihr gesagt, ich wäre ein armes kleines Ding, das niemand haben wollte, das niemand liebhätte. Dabei gab es doch jemanden, der mich liebhatte, und es gab jemanden, der mich wollte – bis sie sie mir weggenommen haben! Er war derjenige, der mich nicht wollte. Er wollte bloß die Schuld loswerden, die ihn im Innern zerfressen hat. Ich war seine tägliche Wohlfühlpille, seine Anti-Schuld-Medizin. Er musste mich nur ansehen, und schon fand sein krankes Herz Frieden. Er konnte sich sagen, dass alles gut war, weil er dem Kind dieser armen Hure ein besseres Leben ermöglichte. Aber wissen Sie was? Ich wollte dieses bessere Leben nie haben. Ich war vorher glücklich. Ich habe meine Mutter geliebt. Und er hat mir eingeredet, dass sie mich nicht haben wollte. Dass sie einfach abgehauen ist. Achtundzwanzig Jahre lang habe ich sie dafür gehasst, dass sie mich im Stich gelassen hat!«
Endlich erkannte Hunter, was hinter Olivias unglaublicher Brutalität stand: verdrängter Hass. Sie hatte ihre Mutter achtundzwanzig Jahre lang für etwas gehasst, das diese nicht getan hatte. Sobald sie die Wahrheit herausgefunden und begriffen hatte, dass sie ihr ganzes Leben lang belogen worden war, hatte dieser Hass auf einmal neue Nahrung erhalten – und ein neues Ziel.
In achtundzwanzig Jahren konnte sich sehr viel Hass anstauen.
Eine Träne lief Olivias Wange hinab, und bei den nächsten Worten zitterte ihre Stimme.
»Ich kann mich noch an sie erinnern – an meine Mutter. Wie schön sie war. Ich weiß noch, wie wir jeden Abend, bevor ich ins Bett musste, Schattentheater
Weitere Kostenlose Bücher