Totenkünstler (German Edition)
Wärme. »Steve hat sich hinter einem Auto versteckt und alles beobachtet. Er hat gesagt, du hast dich einfach nicht unterkriegen lassen. Sie hatten dich am Boden, aber du bist wieder aufgestanden. Sie hatten dich noch mal am Boden, und du bist wieder aufgestanden, obwohl du geblutet hast. Steve hat gesagt, nach dem vierten oder fünften Mal haben die Jungs aufgegeben und sind abgehauen.«
»Ein Glück. Ich weiß nämlich nicht, wie lange ich das noch durchgehalten hätte.« Hunter drehte den Kopf, so dass Alice sein linkes Ohr sehen konnte, und bog die obere Hälfte der Ohrmuschel herunter. »Die Narbe ist von der Prügelei. Sie haben mir fast das Ohr abgerissen.«
Alice betrachtete die wulstige Narbe. »Du warst in der Zwölften und hast dich für jemanden verprügeln lassen, den du nicht mal kanntest. Einen Jungen, der zwei Klassen unter dir war. Ganz ehrlich, ich kenne niemanden, der so was gemacht hätte.«
Hunter schwieg, und Alice wusste nicht recht, ob es ihm peinlich war oder nicht.
»Weißt du«, sagte sie schließlich. »Obwohl du ein Klappergestell und eine Streberleiche warst und dich angezogen hast wie ein gescheiterter Rockstar, waren viele der Mädchen an der Mirman total in dich verknallt.«
»Du auch?« Hunter fixierte sie mit einem fragenden Blick.
Alice biss sich auf die Unterlippe und sah weg. »Ich glaube, du hast recht. Wir brauchen beide Schlaf.« Sie leerte ihr Bier in einem langen Zug, nahm ihren Aktenkoffer und strebte zur Tür.
»Bis morgen im Büro«, sagte Hunter.
Die Antwort war ein Lächeln.
34
Captain Blake stand neben Garcia. Ihr Mund war halb geöffnet, ihr unerschrockener Blick fest auf die Schattenbilder an der Wand gerichtet. Es war das erste Mal, dass sie sie sah.
»Das ist doch ein schlechter Scherz«, sagte sie nach einem langen Schweigen.
Garcia erwiderte nichts.
»Sie wollen mir allen Ernstes weismachen, dass ein wahnsinniger Killer in das Haus eines Staatsanwalts eingedrungen ist, ihn in Stücke gehackt, seine Körperteile zusammengeschnürt und irgendein gottverdammtes Kunstwerk daraus gemacht hat, nur um damit die Schattenbilder von einem Hund und einem Vogel an die Wand zu projizieren?«
»Es sind ein Kojote und ein Rabe«, verbesserte Hunter, der soeben das Büro betrat. Er hatte es in der Nacht auf etwas mehr als vier Stunden Schlaf gebracht. Für ihn war das praktisch das Maximum.
»Was?« Captain Blake fuhr zu ihm herum. »Wovon reden Sie, zum Kuckuck noch mal? Und was spielt die Tierart dabei überhaupt für eine Rolle?«
»Auch Ihnen einen guten Morgen, Captain.«
Blake deutete erst auf die Nachbildung der Skulptur, dann auf die Schattenbilder an der Wand. »Sieht das für irgendjemanden hier nach einem guten Morgen aus?«
»Ein Kojote und ein Rabe?«, wiederholte Garcia und betrachtete die Schatten mit zusammengekniffenen Augen.
Hunter zog die Jacke aus und schaltete seinen Rechner ein.
»Wie hast du das rausgefunden?«, fragte Garcia.
»Nicht ich. Alice.«
Wie aufs Stichwort stieß Alice Beaumont die Tür auf und kam ins Büro gewirbelt. Genau wie tags zuvor hatte sie sich einen adretten Pferdeschwanz gebunden, allerdings wurde er diesmal durch eine teuer aussehende Designer-Sonnenbrille ergänzt, die in ihren Haaren steckte. Sie trug einen tadellos sitzenden hellgrauen Hosenanzug mit einer weißen Charmeuse-Bluse und eine dezente Halskette aus Gold.
Alle drehten sich zu ihr um.
Sie sah auf und blieb stehen, als sie die Blicke auf sich spürte. »Guten … Morgen … alle zusammen. Habe ich was falsch gemacht?«
»Ich habe den anderen nur gerade gesagt, dass du rausgefunden hast, dass es sich bei den Schattentieren um einen Kojoten und einen Raben handelt«, erklärte Hunter. »Vielleicht solltest du die Bedeutung dahinter erläutern.«
Garcia war so gespannt, dass er sich nicht einmal über die plötzliche Vetrautheit zwischen Hunter und Alice wunderte.
Alice stellte ihren Aktenkoffer neben ihrem provisorischen Schreibtisch ab und berichtete Captain Blake und Garcia, was sie in der vergangenen Nacht herausgefunden hatte. Als sie fertig war, herrschte eine Zeitlang nachdenkliche Stille.
»Macht Sinn«, befand Garcia schließlich.
Captain Blake verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war nicht so leicht zu überzeugen.
»Ich sehe es so«, fuhr Alice fort. »Wenn der Täter Derek für einen Lügner hält und das als Anlass für eine derart grausame Racheaktion nimmt, dann muss das Ganze mit einem von Dereks Fällen zusammenhängen.
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