Totenkünstler (German Edition)
oder?«
33
Hunter zeigte keine Regung und sagte kein Wort. Sein Blick lag fest auf Alice. Er wollte sich erinnern, wusste aber nicht, wo in seinem Gedächtnis er suchen sollte.
Als er sie am Tag zuvor zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm etwas an ihr sofort bekannt vorgekommen, auch wenn er nicht sagen konnte, was. Doch dann hatten sich die Ereignisse überschlagen, so dass er keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, ihren Lebenslauf zu überprüfen. Er gab sich betont gelassen.
»Sollte ich denn?«
Alice warf ihre Haare zurück.
»Nicht unbedingt. Ich war nicht sonderlich bemerkenswert.«
Falls sie auf Anteilnahme oder Mitleid hoffte, war sie bei Hunter an der falschen Adresse.
»Du warst ein Wunderkind«, sagte sie. »Du warst auf der Mirman, einer Schule für Hochbegabte. Wenn ich mich richtig entsinne, hieß es über dich: ›Sein IQ ist jenseits des Messbaren‹. Und das selbst nach Wunderkind-Maßstäben.«
Hunter lehnte sich gegen die Fensterscheibe und spürte, wie ihm die Pistole ins Kreuz drückte.
Schon als Kind war Hunter aus der Masse der Gleichaltrigen herausgestochen. Er hatte Zusammenhänge immer viel schneller begriffen als andere, und während normale Schüler mit vierzehn Jahren auf die Highschool wechselten, war Hunter noch nicht einmal elf gewesen. Dementsprechend hatte es auch nicht lange gedauert, bis sein Schulleiter ihn an die Mirman School für Hochbegabte am Mulholland Drive verwiesen hatte.
»Aber für dich war nicht mal der Lehrplan einer Begabtenschule anspruchsvoll genug. Wie lange hast du für die Highschool gebraucht? Zwei Jahre?«
Langsam kehrte Hunters Erinnerung zurück. »Du warst auch auf der Mirman«, sagte er.
Alice nickte. »Du bist in meine Klasse gekommen, als du neu warst.« Sie lächelte. »Aber du bist nicht lange geblieben. Ein paar Monate später hattest du den Lehrplan des ganzen Schuljahres durch, und man hat dich in die nächsthöhere Klasse versetzt. Dir schien alles so leicht zu fallen, dass die Lehrer gar nicht wussten, was sie mit dir anfangen sollen. Also haben sie für dich aus vier Jahren Highschool zwei gemacht, stimmt’s?«
Hunter zuckte bescheiden mit den Schultern.
»Ich weiß das, weil mein Vater Lehrer an der Schule war.«
Hunter betrachtete sie. Ihr Blick bekam etwas Melancholisches.
»Er hat Philosophie unterrichtet.«
»Mr Gellar?«, fragte Hunter. »Mr Anthon Gellar?« Plötzlich hatte er das Bild von ihr als Mädchen klar vor Augen – klein, pummelig, dunkle Haare, ein Gesicht voller Sommersprossen und eine blinkende Zahnspange. Ihm fiel ein, dass er sich ein paar Mal mit ihr unterhalten hatte. Er war vierzehn oder fünfzehn gewesen. Sie war unglaublich schüchtern gewesen, aber sehr klug und nett.
»Genau der«, sagte Alice. »Mr Gellar war mein Dad. Dann erinnerst du dich also noch an ihn?«
»Er war ein toller Lehrer.«
Alice sah auf ihre Füße. »Ich weiß.«
»Du hast jetzt die Haare anders.«
Alice lachte. »Ich bin schon vor über fünfzehn Jahren erblondet.«
»Und deine Sommersprossen sind weg.«
Sie sah Hunter geschmeichelt an, wie um zu sagen: Du weißt also doch noch einiges! »Nein, die sind noch da. Nur unter Sonnenbräune und Make-up versteckt. Aber die Zahnspange bin ich los, und ich habe ziemlich viel abgenommen.« Alice trank einen Schluck von ihrem Bier. »Mein Vater war immer so stolz auf dich. Ich glaube, du warst der beste Schüler, den er je hatte.«
Hunter schwieg.
»Ich habe gehört, du bist dann mit einem Stipendium nach Stanford gegangen. Wie nicht anders zu erwarten, hast du dein Studium natürlich auch im Schnelldurchlauf hinter dich gebracht. Mit dreiundzwanzig hattest du schon einen Doktor in Kriminal-und Biopsychologie.«
Noch immer kein Wort.
»Das ist wirklich beeindruckend, sogar für einen Schüler von der Mirman. Mein Vater hat immer gesagt, dass du eines Tages höchstwahrscheinlich Präsident der Vereinigten Staaten werden würdest. Oder Wissenschaftler. Aber in jedem Fall berühmt.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen. »Aber du fandst es wohl spannender, verrückte Mörder zu jagen, was?«
Keine Antwort.
»Außerdem hast du fünf Jobangebote des FBI ausgeschlagen. Aber deine Dissertation ist nach wie vor Pflichtlektüre an der FBI-Akademie.« Sie hielt inne und betrachtete erneut das Foto von Hunters Abschlussfeier. »Ich bin nach der Mirman ans MIT gegangen.«
Die meisten Menschen wären stolz darauf gewesen. Das Massachusetts Institute of Technology gilt als die
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