Totenkuss: Thriller
meerblau werden würde. Noch wirkte das Licht grau. Bleich grinste
der Vollmond. Ein Stern blinkte. Schwarz zog sich der bebuschte Waldrand den
Hang entlang. Die taubenetzte Wiese lag im Dämmer. Die Hennen waren über Nacht
eingesperrt. Das Trafohäuschen am Wald surrte. Ums Haus herum war es unerhört
still, vom Flüstern der Weide abgesehen, weil der Hahn nicht krähte, denn das
tat er nicht. Der Hahn schwieg. Als Elitehahn erster Güte war er mehrfach
preisgekrönt. Doch aus Hoffart oder einer genetischen Disposition heraus
weigerte er sich, der Natur nachzugeben und seinen Schrei auszustoßen. Dabei
war er nicht taub. Er hörte das dezente Gegacker der Hennen, ab und zu einen
Flügelschlag und den Wind, der hinten am Wald durch die Bäume brach, das
Klingeln der Weide. Den Windstoß, der am Saustall rüttelte und am Schopf, der
die Dachziegel mitnahm vom Hennenstall, in dem der Hahn nun samt seinem Gefolge
aufflatterte.
Dann kam mit aller Gewalt der Regen und weichte die
Lehmkrusten auf und die Hennenscheiße, die zerfloss und mit der Erde
verschmolz, bis der braune Boden breiig war an den Stellen, wo kein Gras
gedieh, und die langen dicken Stängel der Schafgarbe, die neben dem Bulldog
hochschossen, wurden geknickt. Der Regen fiel in Fäden auf die Motorhaube, die
defekte Dachrinne am Schopf trielte. Das Regenfass gluckste und gurgelte, dazu
gesellte sich ein Raunen und Murmeln. Genauso schnell, wie er angefangen hatte,
hörte der Guss auch wieder auf. Vor dem Schopf und dem Saustall standen
Wasserlachen. Es war mit einem Schlag hell und der nasse Bulldog glänzte.
Im Erdgeschoss des Hauses wurde ein Laden aufgestoßen und aus
der Kammer drang der ranzige Geruch nach Nachthafen und schwitzigen Schürzen.
Das Fenster ging nach vorn hinaus, mit Blick auf den Rücken eines steinernen
Feldkreuzes, das, den Gekreuzigten dem fernen Dorf zu, aus den Johannisbeeren
ragte. Darauf prangte, eingemeißelt, ein Gelöbnis aus dem Jahr 1906, dessen
Grund nie enträtselt worden war. »Wand’rer steh stille. / Bedenke Gottes Wille.
/ Not u. bitt’res Leiden / Bringen ew’ge Freuden.« Neben dem Gartenhag lief der
Weg hinunter ins Tal. Die Hennen überquerten ihn nie. Vis-à-vis begann das
Feld. Kein einziges Mal hatte sich eine Henne in den Weizen verirrt. Oder in
die Erdäpfel. Ein Haselnussbusch markierte wie ein Grenzstein den Loken.
Als die Sonne sich über die Hecken schob, ein Ball hinter
einer feuchten Folie, ging der Riegel auf und die Hennen staksten ruckend ins
Freie. Im Hennenstall hatte sich über Nacht ein gelber Gestank gebildet, der in
ihren Federn nistete und in der frischen kühlen Luft ausdunsten musste, weshalb
die Hennen taumelnd und halb betäubt mit den Flügeln fächerten. Zuletzt folgte
wie immer der Hahn, gravitätisch zumeist und übertrieben ausschreitend, er zog
die Beine an und streckte sie vor wie bei einem Hindernislauf über eine
Schachtel Reißnägel.
Das Dorf auf dem Buckel blieb unsichtbar. Es lag hinter den
Feldern und hatte eine Schule, eine Bäckerei, eine Feuerwehr, zwei Kirchen und
einen Friedhof. Noch bevor die Mittagsglocke läutete und Fetzen von Gebimmel
bis in den Hof drangen, wurde der rostige Sattelsitz auf dem Bulldog siedend
heiß. Das geschah ein, zwei Mal im Juli, dass die Sonne am schier meerblauen
Himmel das fertigbrachte. Den Bulldog schien es zu beleben. Er glänzte wie von
Schweiß. Kopflos vor Hitze suchten die Hennen im Schatten seiner Schnauze
Schutz. Vor dem Haus aber platzten die Johannisbeeren. Die alte Frau stand da
in ihrer Tracht, einer speckigen Kittelschürze, Pfingstrosen, das ganze Jahr
über Pfingstrosen, mit dem Garbenseil hatte sie die Blechkanne um den Bauch
gebunden, emsig knickte sie die Stiele um, ehe sie die Beeren mit fliegenden
Fingern abzog. Ihre schrundigen Hände waren rot wie von Blut. Unaufhörlich
bewegte sie die nach innen gezogenen Lippen, die stumm den Schmerzhaften
Rosenkranz hersagten. Ihr Mund war ein schwarzes Loch. Die flackernden Augen
lagen tief in ihren Höhlen, doch die Lider waren makellos, die Wangenknochen
hoch, die Nase war gerade, das Kinn ausgeprägt. In regelmäßigen Abständen, die
mit dem Rhythmus des Gebets zu tun hatten, hielt sie inne und sah hinauf zu dem
Gekreuzigten, der den Blick auf seinen Lendenschurz gesenkt hielt. Ihr Kopf
begann zu wackeln, der Unterkiefer löste sich, das zittrige Kinn verfiel in
einen makabren Tanz. Deutlich sagte sie:
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