Totenkuss: Thriller
Erbrochenem
erstickt. Nicht immer brachten die pflegenden Familienmitglieder genügend
Geduld mit, um den Prozess der natürlichen tödlichen Verwahrlosung bis zum Ende
mitzumachen. Nachgeholfen wurde freilich auch mit Medikamenten.
Herz-Kreislaufmittel, Schlaftabletten, Schmerzstiller, Antibiotika und
alkoholhaltige Hustensäfte, die wahllos eingepfiffen wurden, bis sich vor Mund
und Nase der Leiche rosarote Schaumpilze bildeten. Tod durch Vergiftung.
Hätte der Doktor hingesehen, hätte er die Praxis dichtmachen
können. Kein Mensch wäre mehr zu ihm gekommen, hätte sich herumgesprochen, dass
er die trauernden Hinterbliebenen verdächtigt, Opa und Oma chemisch entsorgt zu
haben. Freilich machten sie das meistens nicht mit Fleiß. Das war ja gerade das
Wesen der Vernachlässigung: eine Kette von folgenreichen Unterlassungen. Und
manche nagelten die Alten noch ans Fensterkreuz, um wochenlang weiter ihre
Rente zu kassieren. Tot sahen sie von draußen viel lebendiger aus. Man konnte
sich halt nicht dauernd um den Opa kümmern, wenn er wieder ins Bett machte und
Runen aus Scheiße an die Wand schmierte. Und auch nicht um die schnaikige Oma,
die das Essen verweigerte und einem das Wasser ins Gesicht spuckte. Rosa war
überzeugt, dass die Toten vom Himmel auf die Lebenden herunterschauten und
wollten, dass sie Gutes taten. Und Gutes an ihnen getan hatten. Was brachte es,
den verfrüht Verstorbenen die Pfeile zu zeigen, die ihnen im Rücken saßen? Sie
wollten nicht wissen, von wem sie um die Ecke gebracht worden waren und wieso.
Die Toten wollten, dass die Lebenden frei waren von Schuld, dass sie die Welt
mit ihrem Tod quasi erlöst hatten von der Sünde, wie Jesus das getan hatte. Die
Toten schauten herunter und sahen alles, was gewesen war, was war und was sein
würde. Und sie sahen, dass es gut war. Das war ein Kinderglaube, der nicht aus
dem Katholizismus Qualbertas kam und den Rosa irgendwo aufgeschnappt hatte. Aus
Subversion hielt sie daran fest, und es bestärkte sie darin, dem Lieben
Herrgott nicht ins Zeug zu flicken. Gottes Wege waren unergründlich, er hatte
die Pfade geebnet und die Felder bestellt, und wenn da dann eben Meuchler und
Mörder drin herumlungerten, dann waren auch dieses Gottes Geschöpfe. Rosa hatte
oft darüber sinniert, wie sie diesen Widerspruch auflösen konnte: Einerseits
war das Leben vorherbestimmt, andererseits musste man sich selbst jeden Tag neu
für sein Gutmenschentum entscheiden. Wie konnte der Wille frei sein, wenn man
vorher schon wusste, wie es ausging? Rosa befand, dass dies der unlösbare
Widerspruch war, den Gott den Menschen auferlegt hatte. Es gehörte untrennbar
zum Glauben, dass man ihn aushielt und akzeptierte. Auch ein Mörder war Gottes
Geschöpf. Unsere Aufgabe war nicht, ihn zu richten. Unsere Aufgabe war, ihn zu
bessern und ihm den Weg zu Gott dem Herrn zu zeigen.
Rosas Mann Ernst-August war schon bald nach der Geburt der
Zwillinge gestorben, und die Kinder kamen alle paar Weihnachten auf Besuch.
Raoul und Ruth schlugen beide dem Vater nach: Sie waren Stinos, stinknormale
Kleinbürger. Auch wenn die Simpel so taten, als seien sie was Besonderes.
Raoul, der Erstgeborene, war Tänzer. Er lebte mit seinem Freund in Boston, die
zehn Minuten jüngere Ruth mit der Freundin und fünf adoptierten Aidswaisen auf
den Shetlandinseln. Die Zwillinge mailten einander täglich. Rosa wäre es ein
Lebtag lang nicht eingefallen, ihrem Bruder einen Brief zu schreiben. Wie
konnte es zwei so grundverschiedene Geschwister geben wie Karle und Rosa?
Reichten die Gene eines warmherzigen, polternden Vaters und einer verkniffenen,
bigotten Mutter aus, solche elementaren Widersprüche in die Welt zu setzen, die
mit einer irrsinnigen ideologischen Wucht ihre Überzeugungen hinausposaunten?
Das konnte sich Rosa nicht vorstellen, denn es wäre jeweils eine übermächtige
Zeugung gewesen. Da war Gott im Spiel. Wenn sie nun untätig vor ihrem
Hexenhäusle hockte und die Sonne auf die Lider scheinen ließ, bis sie erfüllt
war von einem zündenden Rot, kamen ihr die Eltern in den Sinn, wie sie
nebeneinander am Himmelsfenster standen, herunterlugten und ihre beiden
wohlgeratenen Kinder betrachteten. Die Mutter trug ihr schwarz-weiß geblümtes
Sonntagshäs und der Vater Gehrock und Zylinder, und sie blickten genauso
würdevoll drein wie damals, als der Fotograf gekommen war, um sie oben am
Stubenfenster abzulichten, mitsamt ihrem Hof. Rosa
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