Totenkuss: Thriller
spürte, wie sie von den
Eltern gemustert wurde. Mit einem heiligen Ernst. Und wie die Alten sich dabei
wünschten, dass sie sich zu Lebzeiten mit Karle versöhnte. Wie soll das
funktionieren, dachte Rosa, wenn er gleich wieder was von mir will, der
Fasnetsnarr mit dem feingerippten Proletenhäs und der Hansellarve. [4] Als wäre man einander nicht
ein Vierteljahrhundert lang aus dem Weg gegangen. An den Krach in der
Friedenskette bei Mutlangen konnte sich Rosa nicht entsinnen, weil ihr die
ewige Politisiererei und Propaganda des Bruders granatenmäßig auf den Wecker
ging. Ihr mutiges Engagement war allein aus der erzkatholischen Vorsicht heraus
motiviert, bloß keinen Fehler zu machen. Feigheit war immer falsch, Dummheit
auch. Sie wollte sich vor dem Lieben Herrgott nicht blamieren, wenn ihre Stunde
schlug und er sie fragte, was sie für die Gerechtigkeit der Welt und die
Niedrigsten seiner Brüder getan hatte. Zuletzt hatte sie Karle ihrer Meinung
nach auf der Beerdigung eines Geschwisterkindskinds gesehen – allein
väterlicherseits gab es 150 Cousins und Cousinen zweiten Grades aus den
Jahrgängen von 1880 bis 1939. Ein Hüftknochen hatte aus dem Dreckhaufen gelugt,
das hieß, dass die Leichen unter dem Boden verwesten; es war nicht wie im
eigenen Familiengrab, wo man sich nicht sicher sein konnte, in welchem Grund
das Unkraut, das man herauszog, wurzelte.
Damals hatte Karle das Paternoster verweigert, dagestanden
hatte er wie ein Stock, die geballte Faust im Sack. Kein Schnaufer kam ihm über
die Lippen, nicht mal ein bleiches Amen. Das würde er heute wieder bringen,
aber inzwischen ging man liberaler um mit aggressiven Atheisten und ließ sie
machen. Kein Stein war auf dem andern geblieben in den letzten 25 Jahren. Karle
hingegen hatte sich überhaupt nicht verändert, er war ganz der Alte, und
unbesehen konnte Rosa sich vorstellen, wie er in die verdammte Lage geraten
war, gemeinsam mit Tochter und Schwiegersohn. Dass auf Claudis Rasen neulich
ein Toter lag, hat mit der neurotischen Neigung meines Bruders zu tun, mit
eingebildeten Geheimdiensten zu paktieren, dachte Rosa. Und nun fürchtet er
sich vor einem Kripobeamten, und ich soll herauskriegen, womit man ihn unter
Druck setzen kann. Karle will Timo Fehrle etwas in die Schuhe schieben, und ich
soll die Sache richten. Wie stellt er sich das bloß vor? Die ganze Kindheit und
Jugend hindurch hatte ich nichts anderes zu tun, als den Karren für den Bruder
aus dem Dreck zu ziehen. Hört das denn nie auf?
Rosa ging ins Haus und holte ihre alte
Spiegelreflexkamera. Sie stammte noch aus dem Rechtsmedizinischen Institut.
Rosa hatte damit Abertausende von Leichen fotografiert, weil es früher nicht
üblich gewesen war, dass man für alles einen studierten Spezialisten hatte. Mit
der Kamera stieg sie in den BMW, in dem der Schlüssel steckte, Rosa hatte
vergessen, dass sie ihn suchte. Zweimal würgte sie den Motor ab, startete dann
neu und raste hinauf auf die Heuwies. Als sie ankam, stand die Fehrlesbäuerin
in der Mittagshitze im Hof und rührte in einem Einmachtopf mit Erdbeergsälz.
Idiotisch, dachte Rosa, noch vor Pfingsten. Das konnten keine eigenen Beeren
sein. Die waren gekauft. Spanien, Italien. Oder man hatte neuerdings ein
beheiztes Gewächshaus. Ich muss mich auf meine Mission konzentrieren, sagte
sich Rosa. Kurze Sätze. Klare Sätze. Bloß jetzt nicht drauskommen [5] , und dann fallen mir wieder
die verfluchen Wörter nicht ein.
»’s Gott.« Die Fehrlin, gut 20 Jahre jünger, wischte sich die
Hände an der rosaroten Jogginghose ab und gab ihr die Hand. »So ein Wetter
auch. Fünf Monate Winter, bis in den April hinein haufenweise Schnee und
etzetle aber.«
»Allerhand«, erwiderte Rosa, die diese Funzel kannte, seit
sie auf der Welt war. Sie war am Wochenbett bei der Nottaufe gewesen. »Man wird
auch nicht mehr jünger. Da nimmt man es, wie’s kommt. Lieber schwitzen als
erfrieren. Aber jetzt pass auf. Ich bin in einem Kurs. Geschichtskurs an der
Volkshochschule. Heimatgeschichte. Glotz nicht so taub, jawoll, in meinem
Alter. Wir wollen die verlassenen Kammern in alten Höfen fotografieren und
daraus eine Ausstellung machen im Neuen Schloss. Um zu zeigen, dass die Kinder
alle fortziehen in die Stadt und nichts Neues mehr nachkommt.«
»Ja so«, sagte die Fehrlin. Sie drehte sich um und
betrachtete den gigantischen, dem Verfall preisgegebenen Hof, als sähe sie ihn
zum ersten Mal. Die
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