Totenkuss: Thriller
»Bäp-bäp-bäp.« Der Klang ihrer Stimme
verschreckte sie. Die Greisin lief ins Haus. Auf dem Gartenweg verläpperte sie
einen Teil der Beeren. Sie lagen als rote, berstende Perlen auf dem Schotter.
Aus dem Wald kam am Nachmittag der Fuchs. Sein Fell war
stumpf und er schwitzte. Aus seinen Lefzen troff Schaum. Mit fiebrigen Augen
maß er den Pfad. Sein schnürender Gang gehorchte ihm nicht mehr. Schwankend
schleppte er sich dahin. Sein trüber Blick erfasste den Bulldog und die in der
Glut träge dahinbrütenden Hennen.
Gegen Abend war der Hof ein Himmelbett aus Federn, braun,
weiß und schwarz, die leise schaukelten, als ginge ein Wind. Die Hennen lagen
in ihrem geronnenen Blut, mit verrenkten Hälsen und durchgebissenen Kehlen, die
Krallen in die Luft gereckt, eitle Zuchthennen, an die zwei Dutzend Stück. Wie
ein tollwütiges Ballett gruppierten sie sich um den Bulldog herum, nur der
stumme Hahn, der versagt hatte, fehlte. Annika, Qualberta, Lupina, Klara. Kunigunde, Rosalie, Cäcilie. Lore, Lotte,
Gerda, Tusnelda. Kriemhild, Susanne, Wilhelma. Gloria. Paulette, Babette,
Penelope, Regine und Theres. Fanny. Roswitha. Petra. Jedes einzelne Geflügel
war getauft. Das Federvieh hatte Namen gehabt, die nun bruddelnd
heruntergebetet wurden, hinter den zugezogenen Läden der Kammer, während sich
die Sonne langsam neigte und die Trauerweide beharrlich schwieg.
*
Die Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1984 verbrachte
Petra Clauss in einem schmalen Waldstück zwischen Sulgen und Schramberg, in der
Nähe der B 462. Sie hatte sich am Abend dorthin begeben, um auf einen
Großcousin und Adoptivbruder der Mutter zu warten, der angeblich ihr leiblicher
Vater war. Andreas Blum war jüdischer Abstammung, wohnsitzlos und zwischen
Schwaben und Frankreich unterwegs mit dem Fahrrad. Er war ein gelehrter
Vagabund und ein Spinner. Beispielsweise trug er zwei verschiedene Socken und
an seinem Jackett steckte statt einer Friedenstaube der Judenstern. Als Kind
hatte er Theresienstadt überlebt. Seitdem war er zeitweise stumm. Er hatte in
der Nähe der Senke sein Zelt aufgeschlagen. Als 22 Jahre später der Fall Petra
Clauss neu aufgerollt wurde, gestand er den Mord. Eine gerichtliche
Untersuchung ergab, dass er weder der Täter sein konnte noch bei der
Beseitigung der Leiche geholfen hatte.
Du hast das alles aus der Nähe verfolgt, und es war, als
hättest du die alte Fährte wieder aufgenommen. Du bist Petra erneut gefolgt,
ihrem Moschusduft und dem elastischen Mädchenkörper, den Brustwarzen, dem
glänzenden schulterlangen Haar. Und seit Bewegung in die Sache kommt, kriegst
du endlich wieder genug Luft. Die Bäume und das Gras sind nicht mehr gegen
dich. Du musst nicht mehr schnaufen und keuchen im Frühjahr und fühlst dich
eigenartig verjüngt. Als wären seitdem nicht zwei Dutzend Jahre vergangen.
Wieso hast du es damals nicht aufhalten können? Weshalb hast du das Mädchen
verraten, dein Verlangen verleugnet? Dein Mut hätte heilsam sein können, hätte
ein Menschenleben gerettet. Feige warst du, im Totenmonat Mai. Wo die
Kirschblüten schneien für ein Leichentuch. Hinterher wolltest du wenigstens die
Todesursache wissen, erfahren, woran Petra gestorben war. 22 Jahre lang
wusstest du nichts, rein gar nichts. Sie war ja wie vom Erdboden verschluckt,
und es hieß, sie sei von zu Hause abgehauen. Dir war klar, dass das nicht
stimmte. Du bist am Platz geblieben. Und hast dir gesagt, du bist ja da, du
musst einfach nur da sein und warten. Sobald die Zeit reif ist, löst sich die
Sache von selbst.
*
Es war Mittwoch, der 7. Mai, und
Olaf Hahnke seit dreieinhalb Tagen abgängig. Er war quasi zum 24. Jahrestag der
Ermordung von Petra Clauss aus der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim
ausgebrochen, und Timo Fehrle würde bald zur Hochform auflaufen, da war sich
Anita Wolkenstein, die im Büro am Schreibtisch saß, sicher. Jetzt konnte er mal
wieder beweisen, was in ihm steckte. KHK Fehrle war viel ehrgeiziger als Anita,
die trotzdem schon mit 40 zur Kriminaloberrätin befördert worden war. Seit fünf
Jahren leitete sie das Dezernat Tötungsdelikte/Todesermittlungen im
Polizeipräsidium Stuttgart, und sie hatte sich eine harte Hand angewöhnt, die
sie nirgendwo sonderlich beliebt machte. Anders war der Job nicht
durchzustehen. Sie hatte ein Team zu führen und in der Hierarchie zu
funktionieren, sie kannte ihren Platz und konzentrierte sich bei ihren
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