Totenkuss: Thriller
nehmen. Meine
Persönlichkeit auch nicht«, sagte er zum Abschied. Seine Stimme klang kalt.
Sein Blick war leer und gleichzeitig stechend. Dann kam er plötzlich auf Petra:
»Und übrigens – was mich an dem Mädchen am meisten abstieß, war ihre
Spucke. Sie spuckte auf die selbst gedrehte Zigarette, die sie mir gab.«
Anita nahm ihm diese Pointe nicht ab. Er gab nur an und
nutzte seine Überlegenheit. Sie konnten ihm im Fall Petra Clauss nichts
nachweisen. Drei spätere Morde hatte er gestanden, und es war wahrscheinlich,
dass er nun, zwei Jahre nach der Drohung, wieder zuschlug. Wobei seine
Beweggründe gar keiner kannte. Obwohl Tathergang und Nachtatverhalten bestimmte
variable Muster aufwiesen, die nicht ursächlich zum Tötungsgeschehen beitrugen
und anhand derer sich Hahnkes Stil charakterisieren ließ, konnte niemand
deuten, wozu sie dienten. Warum folterte er die Opfer auf wiedererkennbare
Weise? Weshalb deckte er sie zu und wieder auf, um an den Leichen sexuelle
Handlungen vorzunehmen? Wieso belud er sie teilweise mit Tatwerkzeugen, aber
auch mit Gegenständen, die nichts mit der Tat zu tun gehabt hatten? Roswitha
Mayer war nach Eintritt des Todes an Armen und Beinen mit einem Fahrradschlauch
gefesselt worden, dessen Herkunft nie festgestellt werden konnte. Dieses
Detail, das in den Hintergrund geraten war, weil die Untersuchung nicht
weiterführte, fiel Anita plötzlich wieder ein. Da sie im Altfall Petra Clauss
zwei Jahre zuvor mit Fehrle zusammen ermittelt hatte, war ihr die Aktenlage
noch halbwegs vertraut. Natürlich war Olaf Hahnke ins Visier geraten. Doch noch
immer gab es keine gerichtsrelevanten Belege dafür, dass er auch im Fall Petra
der Täter war, obgleich alles den Indizien zufolge nach einer Ersttat aussah.
Und diese Ersttat fehlte in der späteren Mordserie des Mantelmörders. Roswitha
Mayer war von einem planenden Täter ausgesucht worden, und die Fallanalytiker
gingen nicht davon aus, dass es ein Ersttäter war. Dazu war seine Handschrift
zu konsequent.
Anita stöhnte, griff sich an den Kopf, stand auf, trank einen
Schluck Kaffee und ging, den bitteren Geschmack im Mund, hinüber zum Schrank.
In zwei Ordnern hatte sie alles gesammelt, was ihr im Hinblick auf Hahnke im
Zusammenhang mit dem Mordfall Petra Clauss besonders merkwürdig und rätselhaft
erschien. Er hatte drei Morde in mehreren langen Vernehmungen und vor Gericht
ausführlich gestanden und den Tathergang mit zusätzlich belastenden Details
ausgeschmückt, die nachweislich teilweise gegenstandslos waren. Gleichzeitig
hatte er hinsichtlich einer nachvollziehbaren Motivation insbesondere des
Nachtatverhaltens keinerlei bemerkenswerte Angaben gemacht. Daher nahm sie an,
dass es sich bei ihm um eine leicht beeinflussbare narzisstische Persönlichkeit
handelte: Er wollte gefallen, und wenn sie in ihm die teuflische Bestie sehen
wollten, dann lieferte er ihnen exakt dieses Bild. Noch mehr irritierte Anita
der Widerspruch zwischen den schockierenden Einzelheiten und der Form des
Berichts. Hahnkes Vortrag wirkte kalt und langweilig, wobei man spürte, wie
beeindruckt er selber davon war. Er log. Vermutlich ging er davon aus, dass er
mit seiner persönlichen Wahrheit, die von der Norm abwich und sein Tun
motivierte, nicht beeindrucken konnte. Vielleicht gab es auch Mächte in ihm,
die ihm verboten, darüber zu sprechen. Möglicherweise waren Angaben dazu
tabuisiert und mit schweren Sanktionen belegt. Gleichzeitig war denkbar, dass
er dadurch, dass er sich über die Gründe seines Handelns ausschwieg, andere,
noch sadistischere und schockierendere Handlungen vertuschte. Indem er sich als
grausam entblößte, verhüllte er womöglich das definitive Grauen, das
unvorstellbar und nebulös blieb.
Anita war bisher davon ausgegangen, dass es unrealistisch
war, einen Serientäter zu verstehen. Er platzte in eine Idylle, ließ eine übel
zugerichtete Leiche zurück und verschwand. Keiner schaute in ihn hinein. Man
konnte ihn lediglich klassifizieren: Es gab den sadistischen und den sexuell
motivierten Typus. Sie waren beide zu unterscheiden vom missionarischen Typus,
der glaubte, durch bestimmte Mordopfer die Welt zu verbessern oder gar zu
retten, und dem soldatischen Typus, der die Auftragsmorde einer geheimen oder
greifbaren Macht ausführte. Soweit konnte Anita folgen – aber wie
sollte man all die tatrelevanten Beigaben und Riten begreifen, die nicht zur reinen
Tötungsabsicht
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