Totennacht (German Edition)
bis sie sich gesorgt hatten? Wann war ihnen aufgegangen, dass etwas nicht stimmte? Wenn ihre Gefühle sie nicht täuschten, lautete die Antwort: bald. James war keine fünf Minuten weg, und schon verspürte sie Angst.
Sie hatte inzwischen das große Grundstück von Lee und Becky Santangelo erreicht und überquerte den Rasen, der unter ihren Schritten wisperte. Auf der Eingangsveranda klopfte sie an die Tür und bemerkte, dass ihre Hand zitterte. Sie steckte beide Hände in die Taschen und wandte sich der Rasenfläche zu.
Während sie darauf wartete, dass Becky öffnete, stellte sie sich vor, wie der junge Burt Hammond den Rasen gemäht hatte, von Lee Santangelo heimlich dabei beobachtet, vielleicht schon mit der Filmkamera und in Gedanken daran, wie er ihn ins Haus locken konnte.
Was sich dann im Schlafzimmer abgespielt hatte, war nicht ungesetzlich gewesen. Obwohl noch sehr jung, war Burt zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig gewesen. Kat fragte sich, wie viele andere junge Männer Lee zu sich ins Bett geholt hatte.
Als Becky die Tür öffnete, kam Kat auf den Gedanken, dass der Film nur als Alibi für die Nacht, in der Charlie verschwand, diente. Wo sich Lee aufgehalten hatte, als die anderen Jungen verschwanden, war ungeklärt. Kat wusste, dass er in Camp Crescent und in Centralia gewesen war. Höchstwahrscheinlich auch in Fairmount. Es bestand also die Möglichkeit, so vage sie auch sein mochte, dass er mit dem Verschwinden der anderen Jungen zu tun hatte.
«Kann ich Ihnen helfen, Chief?», fragte Becky.
«Haben Sie meinen Jungen gesehen? Er ist zehn und recht groß für sein Alter.»
Kat spähte an ihr vorbei in die dunkle Eingangsdiele. Ihr war klar, dass Lee nun nicht mehr imstande war, ein Kind zu entführen. Seine Frau aber wohl. Becky mit ihrem affektierten Gehabe und der Weigerung, ihr Alter zu akzeptieren. Vielleicht hatte sie James auf der Straße gesehen und ins Haus gelockt, mit den Keksen etwa, die schon Charlie Olmstead so unwiderstehlich gefunden hatte. Und dann, als er im Haus war –
Kat verwarf den Gedanken als paranoid. Becky Santangelo hatte mit den Vermisstenfällen nichts zu tun und erst recht nicht mit James’ Verschwinden. Wären sie oder Lee schuldig, würden mit Sicherheit keine gerahmten Fotos der Tatorte an ihren Wänden hängen. Und Becky hätte ihr jetzt nicht die Tür geöffnet.
«Heute?», fragte sie. «Mir ist auf dieser Straße kein Junge mehr zu Gesicht gekommen, seit Eric Olmstead damals die Stadt verlassen hat.»
«Sind Sie sicher?»
«Absolut. Haben Sie schon drüben bei Glenn Stewart nachgefragt? Da ist Ihr Sohn zwar wahrscheinlich auch nicht, aber es sind schon merkwürdigere Dinge geschehen.»
Ihre Worte lösten bei Kat sämtliche Alarmglocken aus und erinnerten sie an all das, was sie in den Turbulenzen des Tages vergessen hatte, zum Beispiel an das von Norm Harper erwähnte Erweckungserlebnis von Glenn Stewart in Vietnam und Professor Luther Reids Hinweis auf die Mondsekte . An die glorreiche Erleuchtung. An Menschenopfer.
Unheilvoller Mond.
«Ich muss wieder los», sagte Kat. «Wenn Sie meinen Sohn sehen, sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn suche und mir Sorgen mache.»
Der Klang ihrer Stimme erschreckte sie selbst. Sie zitterte, und es schwang nicht mehr bloß Besorgtheit darin mit.
Es war schiere Panik, die von ihr Besitz ergriffen hatte.
Nick kannte sich in Perry Hollow aus. Nicht so gut wie Kat, aber besser, als es bei Besuchern der Stadt normalerweise der Fall war. Er wusste, dass sich ein Umweg über die Pine Street empfahl, wenn die Main Street verstopft war. Er wusste auch, dass er doppelt so schnell wie erlaubt fahren und jedes Stoppschild missachten konnte, wenn Kat und Carl Bauersox viel zu tun hatten. Und er wusste, dass es keinen schnelleren Weg in die Stadt und aus ihr heraus gab als die Old Mill Street, die am See vorbei und dann durch die Felder, auf denen Sojabohnen angebaut wurden, nach Mercerville führte.
Weil sich auch Ken Olmstead in Perry Hollow auskannte, vermutete Nick, dass er genau diesen Weg eingeschlagen hatte. Aber die Zeit wurde knapp. Schon nach fünf Meilen mündete die Old Mill Street in die Route 58. Nach einer weiteren Meile war die Interstate erreicht, und dort würde er Ken Olmstead wohl nicht mehr abfangen können.
Dem vermeintlichen Kurs des Lastwagens folgend, versuchte Nick auszurechnen, wie groß dessen Vorsprung war und wie schnell er fahren musste, um ihn einzuholen. Mit Mathe hatte er sich immer
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