Totennacht (German Edition)
schwergetan. Umso besser war er am Steuer. Wenn er fuhr, brauchte er nicht zu denken. Er musste nur aufs Gaspedal treten.
Genau das tat er. Als er die Old Mill Road erreichte, stand die Tachonadel bei siebzig Meilen, wenig später bei fünfundsiebzig. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und hoffte, Kats Streifenwagen zu sehen. Doch dem war nicht so. Er war auf sich allein gestellt.
Auf der linken Seite flog das Seeufer vorbei. Dann ging es auf schnurgerader Strecke durch die Felder. Autos waren nur wenige unterwegs. Eine rostige Schrottlaube, die vor ihm hertuckerte, überholte er mit Leichtigkeit.
Mit achtzig Sachen überquerte er die Grenze zwischen Perry Hollow und Mercerville, markiert von einem Straßenschild, das ihn in der Stadt willkommen hieß. Nick verzog das Gesicht, weil er es nur als Hinweis sah, dass die Interstate bald erreicht war.
Noch eher für Ken Olmstead.
Gleich hinter dem Schild stieg die Straße steil an und führte auf einen kleinen Hügel hinauf. Auf halber Strecke fuhr ein Cadillac, so breit wie ein Schiff und entsprechend langsam. Nick hatte ihn schnell eingeholt und lenkte auf die Überholspur. Ungefähr hundert Meter vor der Hügelkuppe war er mit dem Caddy gleichauf. Nach weiteren fünfzig Metern war er fast an ihm vorbei. Gleich darauf war die Anhöhe erreicht, hinter der die Straße plötzlich steil abfiel. Er sah nur einen riesigen Himmel vor und das Tal unter sich.
Und einen Tanklastzug, der von unten heraufkam, direkt auf ihn zu.
Er riss das Steuer nach rechts und schnitt den Cadillac. Im Rückspiegel sah er das überholte Auto scharf abbremsen und an den Straßenrand schleudern. Gleichzeitig donnerte der Tanklastzug mit plärrendem Horn an ihm vorbei.
Als der Lärm abebbte, war ein anderes Geräusch zu hören, ein kreischendes Getrieberumoren, das er kurz zuvor erst auf der Main Street gehört hatte. In einiger Entfernung, da, wo die Straße wieder eben verlief, sah er einen schwarzen Lastwagen mit orangeroten Airbrush-Flammen auf den Seiten.
Nick hatte Ken Olmstead entdeckt.
Fluchtartig verließ Kat das Grundstück der Santangelos, getrieben von schrecklichen Gedanken. Sie sah Maggie Olmsteads Sperrholztafel vor sich, all die lächelnden Jungen, die spurlos verschwunden waren. Und nicht zuletzt das Foto, das Professor Reid ihr gemailt hatte und das einen Jungen in James’ Alter zeigte, der, um den Mondgott zu beschwichtigen, geopfert worden war. Unvorstellbar, dass jemand aus ihrer Stadt zu einer solchen Tat imstande wäre.
Aber Wahnsinnige gab es überall, wie sie wusste. Auch in Perry Hollow. Und wenn man in einer Umfrage zu ermitteln versuchen würde, wem am ehesten eine Wahnsinnstat zuzutrauen wäre, würde wahrscheinlich der Name Glenn Stewart am häufigsten genannt werden.
Zurück auf der Straße, rief Kat wieder nach ihrem Sohn. Vielleicht würde er ja gleich wiederauftauchen, nachdem er sich eine Weile versteckt gehalten hatte, um sie, seine Mutter, für ihre scharfen Zurechtweisungen zu bestrafen.
Doch im Grunde rechnete sie nicht damit, zumal sich James immer noch nicht blicken ließ. Er musste entführt worden sein wie die anderen Jungen. Aber nicht von Craig Brewster, dem Entführer von Charlie Olmstead, sondern von Glenn Stewart. Dessen war sich Kat nun sicher.
Sie eilte auf dessen Haus zu und warf einen Blick in den Hinterhof, auf die morsche Pergola, die dem VW-Bus, der darunter parkte, keinen Schutz vor Wind und Wetter bieten konnte. Diesen Wagen hätte sie als erstes Zeichen dafür deuten müssen, dass sich Glenn nicht ausschließlich in seinem Haus aufhielt. Auch wenn der Bus inzwischen nicht mehr fahrtauglich war – irgendwann war Glenn Stewart damit unterwegs gewesen, vielleicht nach Fairmount, nach Centralia und in den tiefen Wäldern rund um Camp Crescent.
Kat stellte sich Glenn am Steuer vor, wie er die Tür öffnete, um arglose Jungen anzulocken. Dennis Kepner und Dwight Halsey. Frankie Pulaski und Bucky Mason. Laut Nick war Noah Pierce auf der Stelle getötet und in den Wasserkanal einer stillgelegten Mühle geworfen worden. Alle Jungen hatten aus ein und demselben Grund sterben müssen, als Menschenopfer für den glorreichen Mond, den Glenn verehrte.
Vor der Eingangsveranda angelangt, zog Kat ihre Glock aus dem Holster.
Im selben Moment waren Schreie zu hören.
Zwei spitze, laute Schreie, die aus dem Inneren des Hauses nach draußen drangen. Kats Herz fing an zu rasen. Sie erkannte die Stimme. Schlimmer noch, sie wusste genau, von
Weitere Kostenlose Bücher