Totennacht (German Edition)
rötliche Licht ausging.
Ein Möbelstück passte nicht ins Bild: ein kleines Bücherregal vor der Wand. Kat fand darin Werke von Shakespeare, moderne Klassiker und sogar eine Ausgabe von Die Kunst des Krieges . Ein ganzes Fach war einem einzigen Autor vorbehalten – Eric Olmstead. Glenn besaß alle seine Bücher, jeder Band war druckfrisch.
Direkt vor dem Regal kauerte James am Boden. Von seiner rechten Schulter sprang auf die linke ein schwarzbraunes Frettchen. Als dessen buschiger Schwanz sein Gesicht streifte, schrie er vor Vergnügen auf.
«James?»
Er erstarrte, als er sie sah. «Er hat mich zu sich gerufen.»
«Das stimmt», bestätigte Glenn Stewart. «Ich habe ihn eingeladen, ins Haus zu kommen.»
Er saß auf einem Polstersessel im Halbdunkel einer Ecke hinter Kat und rührte sich nicht.
Kat trat auf ihren Sohn zu. «James, lass von dem Tier ab.»
«Aber, Mom –»
«Tu, was ich dir sage!»
James gab das Tier frei. Es flitzte an Kats Beinen vorbei und sprang auf Glenns Schoß, um sich von ihm streicheln zu lassen.
«Ein braves Tier», sagte er. «Manchmal ein bisschen wild, aber ganz harmlos. Es hat vor kurzem seinen Partner verloren und trauert noch.»
Kat richtete ihren Blick zurück auf James. «Kleiner Bär, steh auf und geh zur Tür.»
James protestierte nicht. Sichtlich eingeschüchtert und verwirrt, erhob er sich vom Boden und wartete in der Tür auf weitere Instruktionen.
«Und jetzt nach draußen mit dir», sagte Kat. «Falls mir gleich etwas zustoßen sollte, rennst du, so schnell du kannst, hinüber zu Eric und sagst ihm, er soll Carl rufen. Verstanden?»
James antwortete mit einem ängstlichen Kopfnicken.
«Gut. Dann geh jetzt.»
Kat wartete, bis James verschwunden war, und richtete dann die Waffe auf Glenn Stewart. «Was, zum Teufel, hatten Sie mit ihm vor?»
«Ich weiß, Sie glauben mir nicht», entgegnete Glenn Stewart. «Aber er war hier in Sicherheit, viel sicherer als da draußen.»
«Was ist da draußen?»
«Gefahr natürlich. Eine Welt voller Gefahr.»
«Verlassen Sie deshalb nicht das Haus?»
«Unter anderem, ja», antwortete Glenn. «Ein anderer Grund ist mein Aussehen. Ich glaube, die meisten Menschen wollen nicht, dass ich mich draußen blicken lasse.»
Es war zu dunkel, um ihn deutlich zu sehen. Kat erkannte nur eine Silhouette und Schulterbewegungen, die daher rührten, dass er das Frettchen streichelte.
«Ich finde nicht, dass Sie allzu ungewöhnlich aussehen», meinte Kat.
Er stand auf. Kat wich einen Schritt zurück und zielte mit der Glock auf seine Brust, entschlossen, abzudrücken, wenn nötig. Doch dazu schien es keine Veranlassung zu geben. Er trat ins Licht und gab den Blick auf sein Gesicht frei.
Von der Nase abwärts war es ganz normal, ansehnlich sogar mit den vollen Lippen und dem kräftigen Kinn. Anders die obere Gesichtshälfte. Unter einer dünnen Braue stach ein erschreckend blaues Auge hervor. Das Auge auf der rechten Seite fehlte, so auch die Braue. Stattdessen war dort nur ein Hautlappen zu sehen, glatt wie feuchter Ton, darüber eine dicke farblose Narbe, die sich über die Stirn zog und im Haar verschwand.
Kat musterte ihn unerschrocken. «Was ist in Vietnam passiert?»
«My Lai, das ist passiert. Sie haben bestimmt davon gehört.»
Natürlich. Im März 1968 tötete eine Einheit der US-Army Hunderte von Zivilisten. Die Opfer waren unbewaffnet gewesen. Viele von ihnen Frauen und Kinder.
«Manche behaupten, Sie hätten sich selbst zu erschießen versucht», sagte sie. «Ist das wahr?»
«Das tut nichts zur Sache. Wichtiger ist, was mir danach widerfahren ist.»
, erwiderte Kat. «Sie sind im Krankenhaus damit in Berührung gekommen, stimmt’s?»
Glenn nickte. «Es ist zwar eine häufig missverstandene Religion, aber sie hat mir die Augen geöffnet.»
«Was ist an Menschenopfern missverständlich? Die gibt es doch, oder?»
Glenn antwortete ruhig: «Es gibt in der Tat einige wenige, die dies tun. Aber ich zähle nicht dazu, wie übrigens die meisten Anhänger nicht.»
«Und woran glauben Sie?»
«Daran, dass das Leben heilig ist. Einschließlich meines. Dass man Frieden in sich finden muss, bevor man Frieden in der Welt finden kann. Daran arbeite ich immer noch, seit all den Jahren. Außerdem glaube ich, dass, unabhängig von dem, was wir tun, das Böse in der Welt existiert. Ich habe es erfahren.»
«In Vietnam?», fragte Kat.
«Ja, aber auch hier in Perry Hollow. Sogar in meiner Straße.»
«Haben Sie damals gesehen, wie
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