Totennacht (German Edition)
Täter hatte man nie gefasst. Nick glaubte zu wissen, wer es gewesen war. Aber Gewissheit würde er nie finden, da der Mann vor Jahren im Gefängnis gestorben war. Und so hatte er die Stiftung ins Leben gerufen. Für die Zeitungen von Philadelphia war er ein Philanthrop. Damit konnte er leben. Er sah seine Aufgabe darin, unaufgeklärte Fälle aus den Archiven auszugraben und zu lösen. Ob seine Mandanten reich oder arm, jung oder alt, Großstädter oder Landeier waren, war ihm herzlich egal. Sie alle wollten Klärung, und Nick versuchte, ihnen zu helfen.
Seine Mitstreiter arbeiteten alle ehrenamtlich. Auch Kat hatte schon einige Male Akten für ihn studiert, Tatorte aufgesucht und Kollegen in anderen Städten um Unterstützung gebeten. Diesmal lagen die Dinge anders. Ihre Stadt war involviert und damit auch die Polizeiarbeit ihres Vaters. Verständlich, dass sie irritiert reagierte.
«Du weißt, ich bin gern bereit, dir alles zu sagen, was ich weiß», sagte sie. «Und wenn du willst, können wir gleich runter in den Keller des Reviers gehen und einen Blick auf den Abschlussbericht werfen. Wenn du aber erwartest, dass ich dir sonst noch irgendwie helfe, muss ich dich enttäuschen. Der Fall ist offiziell schon vor Jahrzehnten zu den Akten gelegt worden.»
«Würde es dich umstimmen, wenn ich dir sage, wer mich engagiert hat?»
Kat seufzte. «Wohl kaum.»
«Sein Bruder.»
«Du hast mit Eric gesprochen?»
Es gelang ihr recht gut, ihre Überraschung zu überspielen. Ihre Stimme blieb ruhig, der Körper entspannt. Nur ihre Augen weiteten sich ein wenig, was Nick natürlich bemerkte. Er war Experte im Erkennen kleinster Details, die Gefühle und Stimmungen verrieten. Das machte ihn zu einem guten Polizisten.
«Ihr kennt euch?», fragte er.
«Ja.»
Nick schaute ihr ins Gesicht und versuchte, darin zu lesen. Doch Kat zuckte nicht mit der Wimper. Sie ließ sich nicht das Geringste anmerken, was eigentlich untypisch für sie war. Meist gab sie ihre Emotionen so offen zu erkennen wie ihre Dienstmarke. Und sie kannte Eric Olmstead sehr viel besser, als es den Anschein hatte.
«Was kannst du mir über ihn sagen?»
«Unsere Begegnung liegt lange zurück», antwortete Kat. «Im Internet erfährst du wahrscheinlich mehr über ihn als durch mich. Es würde mich nicht wundern, wenn es bei Wikipedia eine Seite über ihn gibt.»
«So ist es.»
Gleich nach seinem ersten und bislang einzigen Telefonat mit ihm hatte er sich davon überzeugen können. Darüber hinaus waren über Google etliche Einträge über den berühmtesten Sohn Perry Hollows zu finden gewesen. Eric Olmstead, dreiundvierzig Jahre alt, Autor mehrerer Krimi-Bestseller. Zweifacher Gewinner des Edgar Award. Er spielte Baseball mit John Grisham und Gitarre mit Stephen King. Links verwiesen Nick auf Erics offizielle Website, auf eine «Fan-Fiction», der seine bekannteste Figur, Privatdetektiv Mitch Gracey, zugrunde lag, und auf Internethändler, die seine Bücher verkauften.
Allerdings waren nirgends irgendwelche Hinweise auf seinen Bruder zu finden oder darauf, warum Eric Olmstead nach über vierzig Jahren so sehr daran interessiert war, dessen Schicksal zu klären. Am Telefon hatte er nur kurz die Umstände von Charlies Verschwinden skizziert. Weshalb ihm so viel an der Aufklärung lag, war nicht zur Sprache gekommen. Um eine Antwort darauf zu erhalten, war Nick nun mitten in der Woche nach Perry Hollow gefahren.
«Kannst du dir denken, warum er mich mit der Sache beauftragt hat?»
Kat nickte und nahm gleichzeitig einen Schluck aus ihrer Tasse, ein Kunststück, das nur ein Koffein-Junkie beherrschte. «Es hat sicher etwas mit seiner Mutter zu tun. Sie ist vor zwei Wochen gestorben.»
«Interessant. Genaueres werde ich wohl bald erfahren. Begleitest du mich?»
«Wohin?»
«Zu Eric. Ich habe dir doch gesagt, dass ich hier einen Mandanten treffen will.»
Kat hatte ihre Beherrschung verloren. Fast wäre ihr der Becher aus der Hand gefallen. «Eric ist hier? In Perry Hollow?»
«Behauptet er zumindest», antwortete Nick. «Freut dich doch bestimmt, ihn wiederzusehen. An alte Zeiten anzuknüpfen.»
«Von alten Zeiten war nicht die Rede.»
«Du hast so was anklingen lassen.»
Kat stand urplötzlich auf und rammte den Stuhl, den sie unwirsch unter den Tisch zurückschob, vor Nicks gesundes Knie. Obwohl sie sich sofort dafür entschuldigte, blieb Nick argwöhnisch. Das Thema machte Miss Campbell offensichtlich nervös.
«Kommst du nun mit? Ja oder nein?»,
Weitere Kostenlose Bücher