Totenpech
tagsüber immer wieder in einen Dämmerzustand verfiel. Ihm war es
nur recht, denn so stand sein Gedankenkarussell für eine Weile still.
Seine Familie suchte ihn sicherlich bereits, und vielleicht hatte
irgendjemand irgendetwas gesehen, als man ihn verschleppte, und es gemeldet.
Plötzlich ging die Tür auf. Ein weià gewandeter Mann gab ihm stumm ein Zeichen
aufzustehen. Als er nicht reagierte, kam ein zweiter hinzu. Gemeinsam zerrten
sie Jean-Luc aus seiner Zelle in einen langen Gang hinaus. Er leistete kaum
Widerstand. Seine Knochen schmerzten, er fühlte sich benommen. Immerhin hatte
er seit seiner Verschleppung kaum etwas zu essen und trinken bekommen. Er
befreite sich aus ihren Griffen und ging leicht schwankend allein weiter. Dabei
versuchte er, alles in sich aufzunehmen. Die groÃen Steinquader links und
rechts, unterbrochen von schmalen hölzernen Türen, die, wie er vermutete,
ebenfalls zu kleinen Gefängniszellen führten, den sandigen Boden und den hellen
Schein am Ende des Ganges. Zum wiederholten Male fragte er sich, wo er hier in
Gottes Namen gelandet war. Er hielt die Luft an, um den beiÃenden SchweiÃgeruch
seiner beiden Begleiter nicht einzuatmen. Dann hörte er ein Summen in der
Ferne. Das liebliche Summen einer Frau, das immer näher kam. Es klang fröhlich
und gleichzeitig so, als wäre sie in etwas vertieft, das ihre volle
Konzentration erforderte. Der Schein am Ende des Ganges kam von einem hell
ausgeleuchteten Raum, an dessen Decke lange Neonröhren hingen. Schon bevor sie
die Letzte der etwa zehn Treppenstufen erreicht hatten, sah er die Frau in
ihrem weiÃen Kittel. Sie war über etwas gebeugt und legte mit blutverschmierten
Handschuhen scheppernd ein stockähnliches Instrument auf einen kleinen
Stahltisch.
Ohne sich umzudrehen, deutete sie mit ihrem behandschuhten Finger
auf einen steinernen Tisch im hinteren Teil des Raumes und begann, wieder vor
sich hin zu summen.
Jean-Luc stemmte die Beine in den Boden und versuchte, der Zugkraft
der beiden Männer entgegenzuwirken. Vergebens. Sie zogen ihn wie einen
störrischen Esel an der Frau und an dem Objekt vorbei, an dem sie arbeitete.
Er hätte besser nicht hingesehen, aber seine Neugier war stärker.
Die Erkenntnis, warum er hier war und was man mit ihm vorhatte, traf ihn wie
ein Hammerschlag. Das Blut rauschte plötzlich wie ein tosender Wasserfall in
seinen Ohren. Er erstarrte vor Angst.
Fünf Minuten später sah Jean-Luc Fleury auf die groÃe weiÃe Uhr an
der Wand. Ihm war klar, dass der Sekundenzeiger ihm die letzten Runden zeigte.
10. KAPITEL
Sam hatte sich die Daten genauestens angesehen, an denen
die vermissten Personen verschwunden waren. Alle Fälle stammten aus den Monaten
April bis September. Im Winter schien es keinen Bedarf an Menschenmaterial zu
geben. Organhandel war das Einzige, was ihm eingefallen war, zumal es sich nur
um gesunde Menschen handelte. Aber im Winter wurden auch Organe benötigt, also
verwarf er den Gedanken wieder. Die Orte waren ein weiterer Punkt, der ihn
stutzen lieÃ. Deshalb suchte er die Hafenmeisterei auf.
René Serafine, der Hafenmeister des Port Hercule, der für die
Schiffsbewegung, die Sicherheit und die nautische Verwaltung des Hafens
zuständig war, zeigte sich äuÃerst auskunftsfreudig und hilfsbereit. Sam gab
ihm die Daten durch, die ihn interessierten, und der Hafenmeister versprach,
bis zum nächsten Tag die gewünschten Informationen bereit zu haben. Eine
Information erhielt er jedoch schon vorweg. Am Abend, als Michaela Kriech
verschwand, hatte nur ein Boot den Hafen verlassen. Die Pink
Panther, eine 25 Meter lange Motorjacht, war zu später
Stunde aufs offene Meer hinausgefahren und in der Nacht wieder in den Hafen
eingelaufen. Soviel René wusste, war die Jacht bereits verkauft und würde in
den nächsten Tagen den Besitzer wechseln.
Sam ging eine Kleinigkeit essen und rief später aus seinem Zimmer
Lina an. Es klingelte ein paarmal, bis sie mit verschlafener Stimme ranging.
»Hi.«
»Hi«, antwortete Sam und überlegte, wie wohl ihre Stimmung sein
mochte. »Tut mir leid, dass ich jetzt noch anrufe. Ich wollte fragen ⦠Bist du
gut nach Hamburg gekommen?«
»Danke der Nachfrage.«
Das klang zickig, fand er.
»Na schön, ich wollte nur fragen, wie es dir geht und ob du gut
angekommen bist. Dann lass ich dich besser weiterschlafen.«
»Ja, ist wohl
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