Totenpfad
der Luft. Ruth ist barfuß und spürt die scharfen Schwertmuscheln an den Füßen.
Sie nähert sich dem Henge-Ring. Vor ihr erstreckt sich weithin der Sand, wellig wie ein gefrorenes Meer. Sie muss an eine Zeile aus Shelleys Gedicht «Ozymandias» denken: «Dehnt öd und eben Sand sich endlos weit.» Diese endlose Weite aus Meer und Himmel hat etwas Erhabenes, das ängstigt und zugleich auch beglückt. Wir sind nichts, denkt Ruth, dieser Landschaft bedeuten wir gar nichts. Die Menschenaus der Bronzezeit haben den Henge hier errichtet, die Menschen aus der Eisenzeit haben Leichen und Opfergaben zurückgelassen, und der moderne Mensch versucht, das Meer mit Mauern, Türmen und Brücken zu zähmen. Nichts übrig sonst. Der Mensch wird zu Staub, geringer noch als Sand – nur Meer und Himmel bleiben ewig gleich. Doch Ruth geht mit raschen, beschwingten Schritten, trotz des Wissens um die eigene Sterblichkeit.
Sie ist mit Nelson verabredet, der ihr erzählen will, wie es Lucy Downey geht. Das ist ein Vermächtnis jener schrecklichen Nacht vor drei Wochen: Ruth fühlt sich Lucy verbunden, und sie weiß, dass diese Verbindung für immer bestehen bleiben wird, ob Lucy das nun will oder nicht. Sie wird Ruth (und hoffentlich noch vieles mehr) vermutlich sogar bald vergessen, sie irgendwann nur noch als die seltsame, dicke Frau wahrnehmen, die an Weihnachten und am Geburtstag Geschenke vorbeibringt und eine schwache Erinnerung auslöst an eine stockdunkle Nacht, ein tosendes Meer und das Ende eines langen Albtraums. Doch für Ruth war der Augenblick, als sie Lucy in den Armen hielt, ein Wendepunkt. In diesem Moment hat sie gewusst, dass sie alles tun würde, um Lucy zu beschützen. In diesem Moment hat sie gespürt, was es heißt, Mutter zu sein.
Nelson hat ihr von Lucys Wiedersehen mit ihren Eltern erzählt. «Wir haben sie angerufen, ihnen aber nicht gesagt, was los ist, sondern sie einfach nur gebeten, aufs Revier zu kommen. Es war vier Uhr morgens, weiß der Himmel, was sie gedacht haben. Die Mutter zumindest hat geglaubt, wir hätten Lucys Leiche gefunden, das habe ich an ihrem Blick gesehen. Wir haben einen Jugendpsychologen hinzugezogen, es wusste ja kein Mensch, was passieren wird, ob Lucy ihre Eltern überhaupt erkennt. Sie war ganz ruhig, saß einfach nur da und hat sich in meine Jackegekuschelt, als würde sie auf irgendwas warten. Wir hatten ihr einen Tee gemacht, und sie hat losgebrüllt, weil sie nicht damit gerechnet hat, dass er heiß ist. Wahrscheinlich hat sie seit zehn Jahren nichts Heißes mehr zu trinken bekommen. Sie hat gebrüllt und die Tasse fallen lassen, und dann hat sie sich vor mir weggeduckt, als würde sie damit rechnen, dass ich sie gleich verprügele. Das Schwein muss sie misshandelt haben, da bin ich sicher. Danach habe ich sie dann doch lieber bei Judy gelassen. Aber als ich mit den Eltern reinkam … da hat sie so ein kleines Geräusch gemacht, ein leises Wimmern, wie ein Baby. Und die Mutter sagt: ‹Lucy?› Und Lucy schreit einfach nur: ‹Mummy!›, und wirft sich ihr in die Arme. Mann. Ich sage dir, da blieb kein Auge trocken. Judy hat geheult wie ein Schlosshund, und selbst Cloughie und ich mussten schniefen. Die Eltern haben sie einfach nur an sich gedrückt, als wollten sie sie nie mehr loslassen. Und dann schaut mich die Mutter über Lucys Kopf hinweg an und sagt: ‹Danke.› Danke! Großer Gott.»
«Glaubst du, sie kommt darüber hinweg?»
«Nun, sie hat natürlich ein ganzes Heer von Psychologen um sich rum, die sagen aber, sie ist erstaunlich hart im Nehmen. Natürlich muss sie erst mal lernen, ein junges Mädchen zu sein und kein Kind mehr. In vieler Hinsicht ist sie immer noch fünf Jahre alt, obwohl sie in manchen Dingen auch erstaunlich reif ist. Ich glaube, sie begreift viel mehr, als wir ihr zutrauen.»
Ruth denkt daran zurück, wie Lucy David mit dem Vogelruf – dem Ruf der Langohreule, da ist sie sich sicher – in den Tod gelockt hat, und glaubt Nelson aufs Wort.
Davids Leiche wurde nicht gefunden. Vermutlich wurde sie aufs Meer hinausgespült und von der Flut an fremde Küsten getragen. Gut möglich, dass man ihn niemals findet und seine sterblichen Überreste sich unter die jungsteinzeitlichenKnochen mischen, die das seichte Wasser birgt.
Dafür fand man Erik. Der große Schamane, der das Moor wie seine Westentasche zu kennen glaubte, war in einem schlammigen Tümpel ertrunken, nur wenige hundert Meter von Ruths Haus entfernt.
Ruth ist zu seiner Beisetzung
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